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Archiv-Artikel

Barschel schlägt Genua

Hoch unterhaltsame, aber wenig tief schürfende Inszenierung zur Macht der Bilder:Andreas Kriegenburgs Projekt „Kurz vorm Vergessen“ im Thalia in der Gaußstraße

von Petra Schellen

Vielleicht liegt die Crux darin, dass Andreas Kriegenburg der Welt eine Nachrichten-Junkie-Mentalität unterstellt, die so pur nicht existiert. Vielleicht auch darin, dass er für sein Projekt Kurz vorm Vergessen, am Mittwoch uraufgeführt am Thalia in der Gaußstraße, ein Thema wählte, dessen Neuigkeitswert bereits schwindet: Die Macht der Bilder hat er gemeinsam mit fünf Schauspielern avisiert; das Projekt markiert den Versuch, mit eigenen Texten die ersten Tage des Jahres aus Sicht eines Verweigerers zu reflektieren.

Markwart Müller-Elmau ist‘s dann auch, der sich als feierabendlicher Protagonist in seine eigenhändig vermauerte Wohnung setzt. „Ich will nicht mehr alles wissen“, jammert er, immer wieder getrieben vom Zwang, Zeitungsnachrichten vorzulesen. Peter Bichsel lässt grüßen. Und Müller-Elmau lechzt nach News, nichts genützt hat ihm die Vermauerung, solange der Fernseher, das „Fenster zur Welt“, eingeschaltet ist.

Hinter Glas spielt sich all dies ab, im Live-Versuchslabor jagen die Akteure einander durch Tänze und surreal angetippte Paargeschichten, ohne dass inspirierende Variationen stattfänden. Da ist die Frau, die der Gatte liebevoll, aber tumb zu Tode pflegte – gemäß dem Bild, das er von ihr hatte: Müller-Elmau mit Judith Hofmann als Kranke auf dem Sofa. Und wieder Müller-Elmau, mit Masken Identitäten erprobend. Man sieht ein Anstaltsbett, das der Greis wimmernd bezieht, erbarmungslos überfüttert von seinen Pflegern.

Ja, man versteht: Nach der Nachrichten-Hysterie des ersten Teils kehrt nach der Pause der regredierende Wahn ein: Was ist geworden aus dem, der nichts mehr wissen wollte? Was liegt hinter dem Bedürfnis, allinformiert zu sein, sich von seiner Identität wegzubetäuben? Und wie lässt sich die Überlagerung der eigenen Vergangenheit durch Fotos vermeiden? Nur vage erinnert sich etwa die Ex-Tango-Partnerin, wie der Mann einst aussah. Ob es aber wirklich nötig ist, die Paare hinter Papp-Imitaten ihrer selbst zu verstecken, damit man versteht?

„Ich möchte Bilder gegen Erinnerungen tauschen“, schreit Müller-Elmau. Doch aufgrund welcher subtilen Vorgänge auch vermeintlich authentische Erinnerung sich wandelt – dies thematisiert Kriegenburg nicht. Er bleibt selbst plakativ. Will sagen: Er bildet ab, lädt den Zuschauer zum Selbsttest ein, wenn er Zeitungs-Bildunterzeilen ohne Foto an die Rampe schleppen lässt. Und wirklich: „9/11“ wirkt stärker bzw. schneller als „Dallas, 23. 11. 1968“. „Barschel in der Badewanne“ schlägt „Globalisierungsopfer Genua“ um Längen.

Nett anzusehen und kabarett-geeignet sind auch die vier Talkshow-Rampenmonologe über den persönlichen Bezug zum Bild: Judith Hofmann verblasst „immer zum gelben Fleck“, während Jörg Pose Schreikrämpfe bekommt, wenn er sein Bildnis erblickt. Helmut Mooshammer verzweifelt angesichts der Tatsache, dass „Mutti die Fotos immer am Kopf, am Ohr oder in den Augen locht“, und bei Natali Seelig „ist nie das drauf, was eigentlich drauf sein soll“. Motto: Plakatives Preisgeben des eigenen, unbedeutenden Innenlebens.

Doch auch hier bleibt die Inszenierung an der Oberfläche, reflektiert nicht etwa über die Kluft zwischen Selbst- und Fremdbild oder den Mythos des Bilderverbots. Stattdessen erschöpft man sich in herzigen Wegbeschreibungen („am Kieser-Training vorbei“) und bewegt sich doch nicht vom Fleck. Aber vielleicht will die Inszenierung durch ihre Machart genau das einhämmern: Wer am Bild klebt, bleibt starr. Weil er Schein und Sein nicht mehr unterscheidet. Aber auch das hat man schon mal irgendwo gehört.

nächste Vorstellung: heute, 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße