: Barbarella aus den Trümmern
Wie erzählt man, wovon man lieber schweigen möchte? Der Regisseur Nicolas Stemann hat sich mit der Dialektik von Erinnern und Verdrängen gleich zweimal beschäftigt: in Wien mit Elfriede Jelinek und in Hannover mit Kurt Vonneguts „Schlachthof 5“
VON SIMONE KAEMPF
Nicolas Stemann ist der Kriegsbewältiger unter den jüngeren Regisseuren. Weil sein Geburtsjahrgang 1968 lautet, muss man genauer sagen, dass er Kriegs- und Vergangenheitsbewältigung bewältigt. Der Damm ist nicht erst gebrochen, seit er Elfriede Jelineks „Das Werk“ über das Seilbahnunglück von Kaprun und die Zwangsarbeiter, die dort einst ein Wasserkraftwerk bauten, mit inszenatorischem Selbstbewusstsein auf die Bühne brachte. Schon frühere Abende wie „Ich und Politik“ im Sommer 2001 oder auch sein „Hamlet“ dachten frei improvisierend über die Frage nach, wie und warum man sich heute politisch positionieren kann, ohne sich vereinnahmen zu lassen von einem System – oder unterkriegen zu lassen von einem Theaterstück. Denn auch einen so hoch komplexen und gebrochenen Text wie Elfriede Jelineks Irakkrieg-Monolog „Babel“ heißt es erst mal in den Griff zu kriegen. So betrachtet bleiben Stemanns Abende immer Positionsbestimmungen.
In Wien hat er zuletzt „Babel“ als zweiten Teil einer Trilogie namens „Wohlstand in Gefahr“ inszeniert. Auch wenn es nicht als Fortsetzungsfolge betitelt ist, schließt die Uraufführung nach Kurt Vonneguts Roman „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“ am Schauspiel Hannover inhaltlich überraschend nahtlos an: Übermächtig wuchern die Kräfte des Krieges, denen gegenüber der Mensch mickrig dasteht.
Das zentrale Motiv steht mit dem ersten Bild des Abends fest: Lange bevor der Text beginnt, flimmern auf einer Leinwand die Ruinen des ausgebombten Dresden. Davor steht ein Schauspieler wie die Silhouette eines winzigen Däumlings, den ein Spielflugzeug wegfegen könnte. Tatsächlich attackiert später ein Modellflugzeug die Hauptfigur. Wolfgang Michalek als Billy rettet sich in eine läutende Telefonzelle, die aus dem Bühnenboden fährt und ihm sogleich zur engen Falle wird.
Bunt und tief ist die Bühne, aber sie sieht für den Menschen nicht viel Schutz- und Erkenntnisraum vor. Zumindest nicht auf Erden. Billy Pilgrim, kriegstraumatisiert und von Beruf Augenoptiker, lernt nach einer Entführung durch Außerirdische mehr als nur drei Dimensionen zu sehen und ohne Zeit, Moral und freien Willen zu leben. Im Grunde könnte die Handlung, dies Ausweichen vor den Trümmern des Krieges in den Weltraum, ein schlechter Witz sein, wenn nicht der Autor Kurt Vonnegut selbst, wie Billy, als amerikanischer Kriegsgefangener im Keller des Dresdener Schlachthofs das Bombardement im Februar 1945 überlebt hätte. Jahrzehntelang fand er keine Perspektive, das Geschehen in Text zu fassen, und baute schließlich aus dieser Unmöglichkeit das tragödientaugliche Fundament seines Romans.
Das ist der Punkt, an dem sich Kurt Vonnegut mit Elfriede Jelinek gut versteht. „Die Geschichte hat Körper verarbeitet wie die Inzersdorfer Konservenfabrik“, schreibt Jelinek. Wovon Vonnegut lieber schweigen wollte, weil er dabei war, das vereinnahmt Jelinek wortgewaltig aus der Wohnzimmerperspektive mithilfe von Bildern, Medien- und Geschichtsfetzen. Es geht bei ihr um die Folterungen von Abu Ghraib und die tiefenpsychologischen Ursachen von Krieg. Jelinek wittert sie im familiären Dreiecksverhältnis Vater, Mutter, Kind wie in der Religion, die über die Leiber bestimmen will, und in den gefräßigen Medien, die den Menschen Bilder wie Haut abzieht. Mit einer babylonischen Vielfalt von Bildern ist das Stück geschlagen, die Sprache hält gewalttätig stand. Im achtzig Seiten langen Fließtext des Stücks reicht ein Halbsatz, um Haltungen ins Gegenteil kippen zu lassen.
Nicht minder uninszenierbar als Jelinek galt auch Vonneguts „Schlachthof 5“ mit seinen Erzählsprüngen und der aufgelösten Zeitstruktur. Auf der mit psychedelischen Teppichmustern ausgelegten Bühne setzt Stemann fast ausnahmslos alle Motive des Romans um bis zu den ewigen Wiederholungen der Geschichte als unheilbares Krankheitsbild. Die fünf Schauspieler übernehmen im Wechselspiel die Rollen von Soldaten, Entertainern und Cowboys. „So geht das“, lautet es leitmotivisch, wenn sie tot umfallen wie die Pappsoldaten.
Eines bleibt stets gegenwärtig: die Erinnerung. Aus Erinnerungen speist sich das Stück, in der Erinnerung kommentieren die Menschen die Ereignisse und kommen nicht weiter, weil der Schrecken wie die weiße Tür auf der Bühne ist, die sich nicht so leicht öffnen lässt.
Space-Comedy, Barbarella-Erlösungsfantasien, 68er-Diskussionston – Stemanns „Schlachthof 5“ hat von allen etwas und lässt viel Raum für Fragen: Klangraum für den Nachhall der Welt der Sechzigerjahre und ihre Verdrängungsmechanismen. Die Welt wird bunter, Barbarella kämpft im Auftrag des Guten, und der Vietnamkrieg befindet sich auf dem Höhepunkt.
Will man überhaupt nach dem Punkt stochern, wo alles angefangen hat? Wo die Schuld etwa für den Luftangriff auf Dresden zu suchen ist? Oder sackt man angesichts solcher Fragen doch lieber haltlos in die Knie? Vonnegut erzählt in einem Kapitel die Katastrophengeschichte rückwärts. Flugzeuge saugen mit einem „wundersamen Magnetismus“ Bomben ein, kehren zurück nach Amerika, „die amerikanischen Flieger gaben ihre Uniform ab und wurden wieder Hochschüler. Und Hitler verwandelte sich in ein Baby.“ Aber Geschichte findet beim Rückspulen keinen Haltepunkt, nicht bei Hitler, nicht bei Sodom und Gomorrha, und so endet Stemann mit dem Liebesakt von Adam und Eva auf der Bühne. Happyend für alle?
Wahrscheinlicher ist, dass Eva mit Kain schwanger wird, und alles beginnt von vorne. Abstammungsgeschichte als Kriegsgeschichte. Von dort braucht Stemanns Inszenierung nur kleine Schritte zu den Obszönitäten der live übertragenen Schlachtbilder. In „Babel“ am Burgtheater lässt Stemann die Mutter im braven Wohnzimmerambiente rabenschwarze Monologbruchstücke servieren, in denen übermäßige Mutterliebe die Wurzel vielen Übels ist. Freilich ein an Männerfantasien orientierter Hausfrauenterror, der die drei Söhne durch den Kamin in den Gotteskrieg ziehen lässt. Als Überväter schweben das Kruzifix, ein Bin-Laden-Porträt und der gekreuzigte George Bush persönlich überm Haus. Mit welchem Gott kann man da noch das eigene Dasein verhandeln?