: Bald vier Millionen Arbeitslose?
■ Debatte um Konjunkturabschwung/ FDP greift Sozialleistungen an und will gleichzeitig den Spitzensteuersatz senken/ Köhler: Aufbau Ostdeutschlands verlangt „Einkommensverzicht und echte Einsparungen“
München (ap/afp/taz) — Die konjunkturelle Lage stellt sich nach Ansicht des scheidenden Vorsitzenden des Sachverständigenrates, Hans Karl Schneider, schlechter dar als die offiziellen Statistiken ausweisen. Laut Schneider wird es in diesem Jahr in Deutschland alles in allem vier Millionen Arbeitslose geben. Im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung werden 3,1 bis 3,2 Millionen Arbeitslose in Gesamtdeutschland vorausgesagt. Schneider betonte in der 'Bunten‘, die Zahl von vier Millionen lasse sich nur noch „mit statistischen Tricks schönrechnen“. Hunderttausende Arbeitslose seien in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, Kurzarbeit und subventionierten Arbeitsplätzen versteckt. Beim Bruttosozialprodukt erwartet Schneider nur ein Plus von 1,5 Prozent. Die Bundesregierung war Ende Januar noch von „gut zwei Prozent“ ausgegangen.
Scharfe Kritik übte der bisherige Chef der sogenannten Fünf Weisen an den diesjährigen Tariferhöhungen. Sie verschlechterten das Investitionsklima und heizten die Inflation an. Der Wirtschaftsprofessor forderte ferner einschneidende Kürzungen in den öffentlichen Haushalten. Er sagte: „Alles gehört auf den Prüfstand. Nicht nur die Subventionen. Alle Staatsausgaben — auch solche im sozialen Bereich.“
Ins selbe Horn blies am Wochenende auch Wirtschafts- und Ankündigungsminister Möllemann. Er kündigte drastische Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt 1993 an. „Es wird eine zweite Runde im Subventionsabbau geben. Auch die Sozialausgaben sind nicht tabu“, so der Minister. Zugleich sprach sich der FDP-Politiker für eine Senkung des Spitzensteuersatzes auf einheitlich 46 Prozent aus. Der Schuldenstand des Bundes habe „eine besorgniserregende Dimension erreicht“, betonte Möllemann.
Laut 'Spiegel‘ hat Finanz-Staatssekretär Köhler kürzlich erklärt, der Aufbau Ostdeutschlands verlange „echte Einsparungen und damit auch reale Einkommensverzichte im Westen“. Die wirtschafts- und finanzpolitischen „Warnsignale leuchten rot auf, ohne daß in wichtigen Kreisen von Politik und Gesellschaft die reale Bedrohung ausreichend zur Kenntnis genommen wird“. Die Ausgabenwünsche rissen nicht ab, unverdrossen trügen die Ressorts der Regierung neue Forderungen vor, als sei 1989 nichts geschehen. „So kann es nicht weitergehen“.
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