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„Bagatellen“ - Von unnütz offenen Kinderaugen

Lebens-Geschichten von Ernestine Zielke, Bremer Schauspielerin / Bisher unveröffentlichte Auszüge / taz-Sommer-Serie, Folge 4  ■  hierhin bitte

die Alte

auffem Sarg

Vielen BremerInnen ist sie ein Begriff: Ernestine Zielke, Jahrgang 1923. Seit einiger Zeit schreibt sie an ihren Erinnerungen. Eine Autobiographie soll es aber nicht sein. Es ist ein Abenteuer, sagt sie, sich in diesem Alter nochmal auf sein ICH einzulassen.

ICH habe meinen Eltern die Anerkennung verweigert. In unserer Familie hat noch niemand gestohlen, nicht ein Krümelchen Salz, sagte meine Mutter. - Mein Sohn wird keinen Diener machen und meine Töchter keinen Knicks, nicht mal vor dem Kaiser von China, sagte mein Vater. - Lügen ist unwürdig, sieh mir in die Augen. - Was immer ihr tut, wenn ihr die Wahrheit sagt, werdet ihr nicht bestraft. - Alle Menschen sind gleich. - Wir schauen auf niemanden herab, auch wenn wir es könnten!!! - Und später: Wir haben niemandem etwas getan. Wir haben nichts getan. Wir haben eine weiße Weste. - Mehr habt ihr nicht getan als nichts? Ist das alles, was ihr habt, eine weiße Weste? Ich war sehr jung, als ich meinen Eltern das sagte und ihnen die Anerkennung verweigerte.

Meine Mutter hat nie erwähnt, daß sie 1937 einen schwulen, entlassenen Offizier bei uns in der Volksküche beschäftigte. Er war der erste Mann, der ihr wirklich half. Sie konnte eine Stunde länger schlafen, weil er schon die Öfen und Herde anheizte und Kaffee kochte. Das war eine Wohltat für ihre offenen Beine. Wenn ich aus der Schule kam - ich war elf Jahre alt - hatte er Zeit, mir neben seiner Arbeit lustige Geschichten zu erzählen, mir Rätsel aufzugeben und mich bei den Schularbeiten, während er Teller abtrocknete, zu korrigieren. Ich liebte ihn. Warum er einige Zeit bei uns in der Bodenkammer geschlafen hat, hat meine Mutter mir nicht erzählt. Plötzlich war er nicht mehr da und wir mußten das Lokal aufgeben. Warum hat sie mir nie etwas gesagt? Aus Angst? Vor mir? Über Politik wurde nicht geredet, aber es war selbstverständlich, daß ich dem Rechtsanwalt Cohn die Suppe an den Tisch brachte, wie allen Alten, denen die Hände zitterten. Die anderen Gäste mußten sich das Essen an der Klappe zur Küche abholen. Jetzt, zurückblickend, frage ich mich, wie Herrn Cohn wohl zumute gewesen sein muß, von mir bedient zu werden, denn ich hatte oft, wenn ich mittags aus der Schule kam und gleich helfen mußte, noch meine BDM-Kluft an.

Was nützten mir meine offenen, gelobten Kinderaugen, wenn hier heile Welt gespielt wurde. Kein Wort der Kritik am Nationalsozialismus. Mein Vater kaufte mir einen blauen Rock, eine braune Kletterweste und Schlips und Knoten von guter Qualität in einem rennomierten Uniformgeschäft. Wenn schon, denn schon.

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