BÜRGER SIND KEINE FILMKRITIKER, SONDERN ENTSCHEIDEN, WER REGIERT : Der gespaltene Wähler
Böse Zungen behaupten, der Wahlkampf sei derzeit das einzige bundesweite Event mit Publikumsbeteiligung, das keinen Eintritt kostet. Genau das Richtige also in Zeiten von Hartz IV, wo vielen Bürgern das Geld für den Eintritt zu größeren Veranstaltungen fehlt. Im Wahlkampf wird gratis einiges geboten: Auf großformatigen Plakaten schauen uns die Spitzenkandidaten betont vertrauenerweckend an. Man stellt sich vor, wie lange sie für diesen Blick geübt haben. Bei der Betrachtung von Wahlspots darf man das Bemühen von Werbeagenturen analysieren, den Politikern einen Rest an Glaubwürdigkeit zu verschaffen. In Fernsehduellen treten die Kandidaten wie Gladiatoren gegeneinander an, und wir dürfen uns hinterher über Versprecher und Wissenslücken amüsieren. Daumen hoch oder Daumen runter.
Wie sehr der Wahlkampf dabei in eine Schräglage gerutscht ist, zeigt das Beispiel Paul Kirchhof. Der Exverfassungsrichter und CDU-Finanzminister in spe ist bekannt geworden durch seine Vorschläge für eine radikale Steuerreform. Von der Praxis hat er wenig Ahnung, man hat den Verdacht, diese interessiert ihn auch nicht. Das jedenfalls zeigte sein Fernsehduell mit dem amtierenden SPD-Finanzminister Hans Eichel. Doch die Nominierung Kirchhofs wurde als „Profilierung“ der CDU gefeiert, weil Kirchhof das Steuersystem „vereinfachen“ will. Was „Vereinfachung“ von Bürokratie bedeutet, haben wir gerade bei den Hartz-IV-Reformen gesehen: Noch immer herrscht in vielen Arbeitsagenturen das Chaos. Dass die CDU nun gerade zum Kernthema Finanzpolitik einen praxisfernen Rundumreformer ins Rennen schickt, zeigt, wie stark auch die Christdemokraten auf den Inszenierungsfaktor setzen.
Wählerinnen und Wähler erleben im Wahlkampf eine eigenartige Spaltung: Einerseits sind sie als Publikum gefragt, quasi als Filmkritiker. Andererseits aber entscheiden sie am Ende doch über politische Programme, die ihre Lebenswelt beeinflussen. Mit dieser Spaltung umzugehen, erfordert etwas Selbstdisziplin. Dann kann man die TV-Duelle ja durchaus als das nehmen, was sie sind: Showauftritte. Es macht Spaß, vom Fernsehsessel aus anderen Leuten dabei zuzusehen, wie sie versuchen, gut rüberzukommen. Aber in zwei Wochen sein Kreuzchen zu machen, ist etwas anderes. Diese Entscheidung sollte man nicht nur an die Frage binden, wen man ab Herbst nicht mehr in der „Tagesschau“ sehen will. Stattdessen hilft bei der Entscheidung ein Blick in die Wahlprogramme. Die stehen übrigens gut erreichbar im Internet auf den Homepages der Parteien. BARBARA DRIBBUSCH