BÜLENT ECEVIT WAR DER LORDSIEGELBEWAHRER DES KEMALISMUS : Europa oder hemmungsloser Machtkampf
Mit Bülent Ecevit wurde nicht nur ein wichtiger türkischer Politiker zu Grabe getragen. Sein Tod markiert auch das Ende einer Epoche. Ecevit war der letzte große Kemalist, der letzte wirkliche Vertreter dieser auf Mustafa Kemal Atatürk zurückgehenden politischen Bewegung, die eine spezifische türkische Mischung aus westlicher Modernisierung, Staatssozialismus und militärisch bewehrtem Nationalismus darstellt. Zwar hat der Kemalismus in der Türkei schon länger seine Dominanz verloren. In den Achtzigerjahren war er vom raffgierigen Kapitalismus eines Turgut Özal abgelöst worden, später musste dieser dem abgeschwächten Islamismus der AKP und Tayyip Erdogans Platz machen. Doch mit Ecevit ist der Lordsiegelbewahrer des Kemalismus zu Grabe getragen worden.
Jetzt befindet sich das Land mitten in der Auseinandersetzung um eine neue Gewichtung von Säkularismus und Islam, Bewahrung von Tradition und Annäherung an die westliche Moderne und dem Kampf um einen US-Kapitalismus versus ein europäisch geprägtes, sozialdemokratisches Modell. Vor allem der Konflikt um die Trennung von Staat und Religion bestimmt das Tagesgeschäft. Viele Türken befürchten, dass die AKP neben dem Premier im kommenden Jahr auch noch das Amt des Staatspräsidenten übernehmen könnte – und dass dann eine Re-Islamisierung der Türkei beginnt, mit der das Erbe Atatürks endgültig beseitigt würde. Die Armee hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, einer solchen Entwicklung tatenlos zuzusehen.
Bisher konnte man davon ausgehen, dass diese Konflikte durch die EU-Einbindung abgemildert werden. Seit sich aber in der Türkei der Eindruck verfestigt, dass es letztlich sowieso keine Chance auf eine Vollmitgliedschaft gibt, entfällt die Selbstdisziplinierung mit Rücksicht auf den Beitrittsprozess zusehends, und die streitenden Parteien schauen nur noch auf den Ausbau ihrer eigenen Machtposition. Falls Ende des Jahres die EU-Verhandlungen tatsächlich wegen Zypern ausgesetzt werden, ist die Bühne frei für den hemmungslosen nationalen Machtkampf. JÜRGEN GOTTSCHLICH