BÜCHER: Berlin in Nuancen
■ Reiseführer für Berlin gibt es viele: Doch die wenigsten halten, was sie in den Klappentexten versprechen.
Auf den Umschlägen locken den Reisenden Quadrigen mit oder ohne Deutschlandfahnen, „freche“ kleine Jungs oder auch „kesse“ Mädchenköpfe mit Thälmannmützen und Henna-Haaren. Reiseführer über die ehedem geteilte Stadt haben Konjunktur. Halbe Bücherregale könnte man mit ihnen füllen. Um zwischen den Konkurrenten noch hervorstechen zu können, versuchen sie, sich voneinander zu unterscheiden: Es gibt Reiseführer „für junge Leute“, für Radfahrer, für Fußgänger, für Männer, für Frauen, für Kinder, für Schwule; manche, wie die mittlerweile sieben Berlin-Tour-Bücher aus dem Stattbuch-Verlag, widmen sich einzelnen Stadtteilen — die meisten Reiseführer allerdings setzen auf Vollständigkeit und den vermeintlich guten Namen ihres Verlags.
Angesichts der Vielfalt erwartet man eigentlich Unterschiede in Schreibweisen und Blickrichtungen. Anders Reisen aus dem Rowohlt Verlag, so denkt man zum Beispiel, müsse sich schon allein aufgrund seines Titels vom dem Rest der Reiseführer unterscheiden.
Viel wird versprochen: „Den anderen Alltag“ will das Büchlein erschließen, die soziale Isolation und politische Enthaltsamkeit des „anderen Touristen“ aufheben. Die Reiselust soll mit „unverstellt fremder Wirklichkeit“ belohnt werden, deren „verändernde Kraft über die Reise hinaus“ wirkt. Worthülsen — denn inhaltlich unterscheidet sich der Führer nur unwesentlich von der Konkurrenz. Da die Themen Schwule, Lesben, Alternatives von Dumont oder dem APA-Guide nicht schlechter abgedeckt sind, versucht man mit Sonderkapiteln über „Video“, „Mode und Design“ oder „Comics“ und einem in der Tat besseren Umlandsteil, Marktlücken zu besetzen.
„Anders“ ist zuweilen die Sprache. Einkaufsmöglichkeiten findet man nicht unter dem Titel „Shopping“, sondern unter „Kaufrausch“; die AutorInnen meckern öfter und bekennen sich unverfrorener zu ihren Vorurteilen über die Unterschiede zwischen Kreuzberg 36 und Kreuzberg 61, über den Wedding („gesichtslos“) und befürchten im übrigen ängstlich, Berlin drohe zum Schaufenster des Ostens zu „degenerieren“.
Mögen sie sich auch thematisch ein wenig unterscheiden — der APA- Guide hat zum Beispiel den umfassendsten Geschichtsteil —, in der Textsprache ähneln sich die verschiedenen Führer. In kurzen Sätzen werden immer dieselben Adjektive (von oftmals den gleichen AutorInnen) verwendet, und nur selten gibt es kleine, sympathische Subversionen am Rande, mit denen die SchreiberInnen ein wenig Individualität zumindest noch durchscheinen lassen.
Als Berlin-Bewohner grinst man zuweilen über die Kneipen, die immer noch als Undergroundcafés empfohlen werden, freut sich an identischen Formulierungen, die den Abschreibverdacht auf das schönste bestätigen, und stellt politische Nuancen im Detail fest: Bei APA-Guide und Anders Reisen war der vor zehn Jahren umgekommene Demonstrant Klaus-Jürgen Rattay noch von Polizisten vor einen Bus getrieben worden, bei Dumont wurde er „während einer brutalen Straßenschlacht von einem Bus überrollt“. Und manchmal ist man auch ein bißchen wehmütig, denn viele der aufgelisteten Orte gibt es inzwischen nicht mehr: Zahlreiche Kneipen im Kreuzberger Raum sind mittlerweile durch die extremen Mieterhöhungen vertrieben worden, das imposante Lenin-Denkmal wird abgerissen, der Flohmarkt am Bülowbogen hat seinen Betrieb eingestellt, vor dem Reichstag darf keiner mehr Fußball spielen, und der „Palast der Republik“ ist wegen Asbestverseuchung geschlossen. Das Gebäude soll sowieso — jedenfalls wenn es nach dem Aufmachertext des Merian-Sonderheftes zu Berlin geht — möglichst schnell abgerissen werden, um das alte Schloß an alter Stelle wiederaufzubauen und „die Stadt als Stadt zu retten“. Mag man diesen Vorschlag auch idiotisch finden, so ist das Merian-Heft doch eine der wenigen Berlin-Publikationen, die zu lesen Spaß macht. Statt sich um Vollständigkeit zu mühen, hat man — ob in einem Aufsatz des FAZ-Kritikers Werner Fuld über die zwanziger Jahre oder in einem sehr schönen Helmut-Höge-Text über das Narva-Glühlampenwerk— mehr Wert aufs Detail gelegt.
Was den Gebrauchswert angeht, unterscheiden sich die Reiseführer kaum; man mag vielleicht dies oder jenes Format besser finden, in dem einen mag diese, in dem anderen jene Adresse fehlen (die lassen sich durch den Adressenteil der Stadtmagazine ergänzen und aktualisieren), mit jedem können Berlin-BesucherInnen ihr Berlin entdecken. Wer allerdings die lebendige Sprache vorzieht, sollte auf die meist sehr kundigen kulturhistorischen oder alternativen Stadtrundfahrten zurückgreifen. Detlef Kuhlbrodt
Auswahl:
Anders Reisen , Rowohlt, 16,80 DM
Berlin , Dumont-Reisetaschenbücher, 19,80 DM
Berlin, APA-City-Guides. Raus in die Stadt , „ein Stadtführer für Kinder durch ganz Berlin“, Hrsg. Stefan Berkholz, ElefantenPress, 16,80 DM
Berlin Tour 1-7, (Berlin quer, Kulturmeile, Wedding, ganz Berlin Ost, ganz Berlin West, Tempelhof, Land um Berlin) Stattbuch- Verlag, zwischen 19 und 24 DM
Hauptstadt Berlin , 'Merian Extra‘, 14,80 DM
Berlin für junge Leute , Informationszentrum Berlin, kostenlos
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