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Archiv-Artikel

BRASILIEN: WENN LULA SCHEITERT, TRIUMPHIERT WASHINGTON Lateinamerikas Linksruck auf der Kippe

Ein angeschlagener Lula muss in die Stichwahl, und die rechtsliberale Opposition wittert erstmals eine Chance auf den Sieg. Damit ist Brasiliens Linke mit der schlimmstmöglichen politischen Perspektive für das Land konfrontiert.

Auf dem Spiel steht weniger ein abrupter Wandel in Brasilien selbst – zu dürftig ist in den letzten vier Jahren die soziale Wende ausgefallen. Geringe innen- und wirtschaftspolitische Spielräume haben dazu ebenso beigetragen wie der bedächtige Charakter des Staatschefs. Der setzte gegenüber den Finanzmärkten und der einheimischen Oligarchie lieber auf Ausgleich als auf Konfrontation.

Nein, es geht um mehr: ob nämlich der viel beschworene Linksruck in Lateinamerika schon wieder zu Ende geht, bevor er überhaupt richtig angefangen hat. Eine Niederlage Lulas würde die politischen Perspektiven auf dem Subkontinent nachhaltig verschieben. Die regionale Integration unter sozialem Vorzeichen, die letztes Jahr mit dem Beitritt Venezuelas zum Handelspakt Mercosur einen überraschenden Impuls bekam, wäre zum Stillstand verurteilt. Stattdessen käme mittelfristig wieder Washingtons Projekt einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland auf die Tagesordnung – und mit ihr eine weitere Beschneidung der jetzt schon arg begrenzten Souveränität der lateinamerikanischen Staaten.

Nach dem Triumph Lulas 2002 kamen auch in Argentinien, Uruguay und Bolivien linksliberale oder linke Kräfte an die Regierung. Seitdem wird über Alternativen zum hemmungslosen Wirtschaftsliberalismus zumindest nachgedacht. Bolivien versucht mit seiner Erdgas-Nationalisierung viel mehr. Doch ohne das Zusammenspiel mit Brasilien ist dieses Projekt zum Scheitern verurteilt.

Eine Wiederwahl Lulas liegt aber nicht nur im Interesse seiner progressiven Kollegen. Auch soziale Bewegungen und Umweltgruppen, die Lateinamerika von unten her verändern wollen, hätten von einem neoliberalen Rollback nichts zu erwarten. Dass Brasiliens Linke eine zweite Chance besser nutzen müsste als bisher, ist unbestritten. Doch das ist eine andere Geschichte. GERHARD DILGER