BLOODY-MARY-PERFORMANCES IN DER KLEINGARTENKOLONIE UND KETTENSÄGENTÜRGRIFFE IM HYPERKREATIVCLUSTER : Authentizität oder Menschenzoo?
VON MICHAEL BRAKE
Wir fuhren vor in einem goldenen Mercedes. Das Ziel: die Kleingartenkolonie Potsdamer Güterbahnhof. Hier wurde Kunst gespielt, die Ausstellungsreihe „Stay Hungry“ hatte zur vierten Runde geladen. Also trat unter der U2-Brücke im verwunschen, brachliegenden Gleisdreieck-Gelände eine Low-Fi-Band auf, und wir stapften durch die langen, dunklen Gänge der Kolonie und waren uns nie ganz sicher, ob das jetzt gerade Kunst ist oder einfach so aussieht. Fast wie Ostereiersuchen.
Unzweifelhafte Fundstücke: Fernseher, auf denen synchron die Hotdog-WM und die „Major Eating League Asia“ liefen, Diaprojektionen auf weiß gestrichenen Holzlauben, eine Bloody-Mary-Performance, ein Pappmaché-Schwarzlichtschrein und Screenshots in Mini-Bilderrahmen von Heinrich Dubel (dem an dieser Stelle ein solidarisches „Tod dem Krankheitsschwein!“ zugerufen sei). Alles so weit super. Und was für ein authentisches Ambiente! Aber.
Wenn man dann nämlich zwischen vielen Stofftaschenträgern und wenigen verstreuten Kleingärtnern im neonbeleuchteten Vereinsheim steht, an den Wänden eine mit Cliparts missgestaltete Preisskat-Ankündigung („Anmelden bei Helga/Udo“), in der Ecke ein toter Heizpilz und an der Decke eine einsame Kreppherzengirlande, gerät man ins Zweifeln, ob das mit der Authentizität wirklich so super ist. Im Nordneuköllner Sanderstübl beispielsweise werden alle paar Monate Wasted-irgendwas-Partys der cranky Berlinjugend begangen, bei denen die Stammkundschaft im Vorraum sitzt und an ihrem Bier nippt. Klingt nach Versöhnung in Zeiten der Gentrifizierung, ist aber in Wirklichkeit: Menschenzoo.
Doch genug der ernsten Gedanken, es war Kaiserwetter. Was speziell mir jetzt nicht so viel brachte: Eine latente, aber nie komplett aus dem Quark kommende Aprilgrippe sorgte für beständige Schlappheit. Es reichte immerhin zum Kurzausflug mit Ostereiersuche an den Klein Köriser See und zum Versuch, einen von „Funkel Junkel“ veranstalteten Open-Air-Rave auf irgendeinem neuen Gelände in Tempelhof zu besuchen (wegen Überfüllung kein Einlass).
Aus den genannten gesundheitlichen Gründen war auch hartes Ausgehen nicht drin, eine meterweite Eukalyptus-Fahne ist nebenbei nicht unbedingt nachtlebentauglich. Dafür gab es Samstag noch mehr Kunst: In einem Nebenzweig der Aqua-Butzke-Fabrik in der Lobeckstraße wurde das „Schau Fenster“ bespielt, zu ironischer Musik sprachen wir über Fußballverletzungen, graue Haare und das Redesign des Beck’s-Gold-Etiketts (mehr Schwarzanteil für die Männer-Zielgruppe). Die Kunst, kuratiert von Intro-Chefredakteur Thomas Venker, war hingegen beliebiges Mischmasch, mit Ausnahme von reizenden Kreidezeichnungen blauer Elefanten und Meike Wolfs „75 Gründen, sich zu fürchten“, einem illustrierten Organigramm menschlicher Ängste, das Jens Friebe noch am gleichen Abend kaufte.
Viel toller war die Location: Ein Traum in 70er-Jahre-mittelständische-Firma, vollverkachelt in den allerschönsten Brauntönen, mit Springbrunnen in der Lobby und kettensägengeformten Türgriffen. Und das alles mitten im kommenden Berliner Hyperkreativcluster gelegen (Stichwort Modulorhaus).
Denn wo wir gerade dabei sind, möchte ich an dieser Stelle festhalten, was ich im kleinen Kreis schon seit zwei Jahren postuliere: Das Neubau-Niemandsland zwischen Stresemannstraße, U1-Hochbahntrasse,Moritzplatz und Mauerstreifen wird in exakt viereinhalb Jahren der neue Berliner It-Bezirk sein! Einfach weil alle anderen zentralen Viertel bis dahin weggentrifiziert wurden. Und weil die kommende Generation endlich den Hohedeckendielenbodenfetischismus ihrer Vorgänger überwinden wird. Zurück zum Beton! Markiert meine Worte!