BLAIR HAT MIT DEM IRAK-DOSSIER NICHT NUR DIE BRITEN GETÄUSCHT : Eine europäische Affäre
Mit bewundernswerter Hartnäckigkeit gehen Journalisten in Großbritannien den Verdrehungen und Übertreibungen der Blair-Regierung nach, mit denen sie für den Irakkrieg mobilisierte. Die europäischen Regierungen hingegen tun so, als ginge sie dies alles nichts an. Dabei haben Premierminister Tony Blair und sein Außenminister Jack Straw nicht nur das britische Parlament und die britische Öffentlichkeit in die Irre geführt. Auch die Gremien der EU und die Bevölkerung – wenigstens im politischen Sinn der Souverän des demokratischen Staatenbundes Europäische Union – wurden ganz offenbar getäuscht. Denn das britische Irakdossier sollte auch die europäische Öffentlichkeit und die kriegskritischen Regierungen zu einer Unterstützung des Irakkriegs bewegen.
Wenn es aber in einer Demokratie das schlimmste denkbare Vergehen eines Regierungsmitglieds ist, das Parlament zu täuschen, dann ist es das schlimmste Vergehen eines Mitgliedstaates der EU, wenn seine Vertreter den Ministerrat in die Irre führen. Die Konsequenzen sind ähnlich: Wäre der Ministerrat der EU der britischen Regierungslinie gefolgt, hätte die Europäische Union als Ganzes den Angriffskrieg unterstützt. Deshalb ist es verwunderlich, dass von den anderen europäischen Regierungen bislang kein Wort zu der Affäre um die britischen Geheimdienstberichte zu hören ist. Hier gilt offenbar wieder das anachronistische Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates: Premierminister Blair darf die höchsten EU-Gremien und das europäische Wahlvolk täuschen, diesseits des Ärmelkanals hat dies niemanden zu interessieren.
Man mag das Schweigen der getäuschten EU-Regierungen für einen Ausdruck realistischer Politik halten. Man mag sogar die vordemokratische Auffassung vertreten, dass die Öffentlichkeit der EU in der elementaren Frage von Krieg und Frieden ungerügt getäuscht werden darf. Doch wer dies tut, der möge sich künftig feierliche Worte zur Bedeutung einer gemeinsamen EU-Außenpolitik sparen. Denn die britische Irakaffäre ist auch eine europäische Angelegenheit. ERIC CHAUVISTRÉ