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Archiv-Artikel

BEZIEHUNGSKRISE Die Romantik ist weg

Ich und der HSV, wir können nicht ohne-, aber auch nicht mehr miteinander

Vor Kurzem fand ich meine erste Eintrittskarte wieder. Mein Vater hatte mich im Dezember 1994 ins Volksparkstadion mitgenommen und wir sahen den HSV gegen Borussia Dortmund. Hamburg verlor bei Nieselregen und Temperaturen um den Gefrierpunkt chancenlos mit 0:4. Ein Tor Sammer, drei Tore Zorc. Das war mir alles egal, ich hatte mich verliebt. Seitdem bin ich HSV-Fan. Dieses Spiel steht für ziemlich viel, was meine Beziehung mit diesem Verein im weiteren Verlauf prägen sollte.

Die dunklen 90er-Jahre in der Westkurve, Idole wie Lumpi Spörl, Valdas Ivanauskas oder Karsten Bäron. Ohne große Ambitionen im Mittelfeld der Bundesliga, es machte mir nichts aus. Die letzte Deutsche Meisterschaft und das Wunder von Athen, bei dem der HSV den Pokal der Landesmeister gewann, ereigneten sich ein Jahr vor meiner Geburt. Ich habe nie einen Titel mit diesem Verein gewonnen und bin dennoch ein glühender Verehrer. Leiden habe ich gelernt, gleichzeitig aber auch sehr viel Freude mit diesem Verein gehabt.

Mit dem umgebauten Stadion kam langsam Schwung in meinen Verein. Erstmals Champions League und das legendäre 4:4 gegen Juventus Turin. Höhepunkte meiner Fankarriere. Jahre mit internationaler Beteiligung folgten und ich gewöhnte mich schnell an diesen Luxus. Champions League muss gar nicht sein, UEFA-Cup ist auch was Schönes. Dachte ich.

Dann kamen die unsäglichen Tage 2009, in denen jeweils die Halbfinals im UEFA-Cup und DFB-Pokal gegen Bremen verloren wurden. Im Jahr darauf erneut Halbfinal-Aus gegen Fulham, kein Finale im eigenen Stadion. Ich habe gelitten, aber auch solche Tiefpunkte gehören zu einer Beziehung dazu. Die folgende Zeit, in der es sich nur bedingt lohnte, ein Namensschild an der Trainerbank zu befestigen, ertrug ich treu und verteidigte die Personalentscheidungen meines Vereins. Zumindest gegenüber „Nicht-HSVern“.

Angelehnt an Fidel Castros Bonmot „Innerhalb der Revolution alles, außerhalb nichts“, versuchte ich mich einzubringen. Ich ging zu den Mitgliederversammlungen, diskutierte und stritt mit anderen Fans, gleichzeitig trug ich stets stolz meinen HSV-Schal und konnte stets (für mich) schlüssig erklären, warum der HSV der einzig wahre Fußballverein der Welt ist.

Die letzte Saison forderte die ganze Leidensbereitschaft heraus, die ich mir über die Jahre antrainiert hatte. Die Mannschaft spielte schrecklich und die Vereinsführung gab ein erbärmliches Bild in den Medien ab. Kein Grund für mich, den HSV-Schal abzulegen oder nicht mehr ins Stadion zu gehen und weiterhin jedes zweite Wochenende meine Stimme zu opfern, um meinen Verein nach vorn zu schreien. Auch wenn der nächste gegnerische Standard wieder ein Gegentor bedeutete. Die gewonnenen Punkte wurden doppelt so intensiv bejubelt wie sonst. An den Klassenerhalt habe ich bis zum Schluss geglaubt. Als er gelang, konnte ich nicht mehr das Wort „verdient“ in den Mund nehmen, zu erschöpft war ich. Wir hatten es geschafft.

Im Sommer beschlossen die Mitglieder die Ausgliederung der Profi-Abteilung. Vor und während der Abstimmung wurden hitzige Debatten geführt, wobei kritische Stimmen von der Mehrheit schnell lautstark an die Seite gedrängt wurden. Zum ersten Mal empfand ich den Umgangston unter den Mitgliedern als nicht akzeptabel. Wenn man die Erfolge der 80er-Jahre miterlebt hat, hat man wohl eine andere Erwartungshaltung an den Verein, als ich mit meiner 90er-Jahre-Sozialisation. Für schönen Fußball bin ich nie ins Stadion gegangen. Wer jedes Jahr Titel gewinnen will, soll zu den Bayern gehen. Machen viele, ist auch vollkommen in Ordnung, nur meins ist es halt nicht. Der Traum nach der wiederhergestellten Augenhöhe mit den Bayern ebnete für viele den Weg zur Ausgliederung.

Etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte, passierte: Es gab einen Knacks in mir. Das Besondere, das meinen Verein ausgemacht hat, ein echter Verein mit vielen Sportarten und einer Mitbestimmung der Fans zu sein, hatten sich eben diese Fans genommen. Die Fußballromantik, die für mich den HSV ausgemacht hatte, war damit weg.

Seitdem ist meine blau-weiß-schwarze, rautenförmige Fanbrille aus Milchglas. Ich bin weiterhin Mitglied und habe auch meine Dauerkarte behalten. Einfach so Schluss machen kann ich nicht mit meiner großen Liebe. Aber wir leben aneinander vorbei. Ach, schon der vierte Trainer in dieser Saison, na schau an. Was möchte Onkel Kühne jetzt? Wer wird neu verpflichtet? Ich nehme es zur Kenntnis. Ich habe keine Lust mehr, darüber zu diskutieren. Ach, sie haben die Vereinshymne vor dem Spiel ersetzt? Ich komme zum Anpfiff und gehe zum Abpfiff und schaue die Spiele. Aber ich bin stiller Beobachter, die Gefühle sind nicht mehr da wie zuvor.

Vielleicht ist es eine Art Trennungsjahr, sicher brauche ich Zeit, um die Geschehnisse zu verarbeiten. Andere sind zur dritten Mannschaft in die Bezirksliga Nord abgewandert oder haben mit dem HFC Falke sogar einen eigenen Verein gegründet. Ich habe mir beides angeschaut und es gefällt mir auch. Ich schaue gerne Amateurfußball. Es ist aber nicht das Gefühl, das ich jahrelang mit Tausenden anderen Fans und vielen Freunden gemeinsam in der Nordkurve hatte.

Zu einem anderen Bundesligaverein werde ich niemals überlaufen, da bin ich Romantiker. Ob ich aber meine Dauerkarte in der neuen Saison verlängern werde, weiß ich noch nicht. Das Gefühl, an einem Spieltag nicht im Stadion zu sein, löst bei mir immer noch Panik aus.

Wie es manchmal in der Liebe so ist: Man kann nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander. Gibt es eigentlich bei St. Pauli eine Dauerkarte für den Gästeblock?  JAN STAU