BETTINA GAUS über FERNSEHEN : Perlen, Preise, Pinkelpausen
Warum es kein ungetrübtes Vergnügen ist, in der Jury der Grimme-Fernsehpreise zu sitzen
So müsse man sich wohl klösterliche Exerzitien vorstellen, hatten mir zwei Leute unabhängig voneinander gesagt, die in früheren Jahren dabei gewesen waren. Ich hatte das für eine lyrische Übertreibung gehalten.
Nach einer Woche, die ich jetzt in Marl als Jury-Mitglied für die Grimme-Fernsehpreise verbracht habe, kann ich nur sagen: Sie haben untertrieben. Weit. Das Klosterleben muss eine Kirmes sein, verglichen mit dieser Veranstaltung.
Sechs Frauen und fünf Männer, die einander nicht kennen, sitzen in einem abgedunkelten Raum bei künstlicher Beleuchtung und sehen bis zu zwölf Stunden am Tag fern.
Wir sollen Informations- und Kultursendungen bewerten, befassen uns also – unter anderem – mit Krieg, Legebatterien, dem Dichter Gottfried Benn, Fußball und Arbeitslosigkeit. In einem anderen Raum des nüchternen Backsteingebäudes sitzt eine andere Jury und darf Spielfilme anschauen.
Darf? Na ja. Sich vollständig auf einen Film konzentrieren zu müssen, den man grottenschlecht findet und außer Reichweite der Fernbedienung zu sitzen, ist vielleicht noch schlimmer als eine blöde Informationssendung zu ertragen. Oder doch nicht. Man hat viel Zeit, um darüber nachzudenken.
Denn das ist die erste Überraschung: Ich hatte mir immer vorgestellt, dass man bei den möglichen Beiträgen für den renommierten Preis nur die Qual der Wahl zwischen verschiedenen Sternstunden der Fernsehgeschichte hat. Von wegen.
Oh ja, es gibt Perlen. Es gibt sogar mehr Perlen als Preise. Aber es gibt eben auch Beiträge, bei denen man sich fragt, ob die Nominierungskommission, die eine Vorauswahl getroffen hat, die Jury hasst und quälen wollte. Von hier aus ein herzlicher Gruß: Falls das so gewesen sein sollte, könnt ihr euch über einen schönen Erfolg freuen.
Viel einzubilden braucht ihr euch darauf allerdings nicht. Wir dürfen nämlich – anders als ihr – nicht einfach abbrechen, wenn die immer häufigeren Blicke auf die Uhr und der immer ausgetretenere Trampelpfad zum Klo keinen Zweifel daran lassen, dass dieser Beitrag nie, nie, niemals einen Preis bekommen wird. Man geht ja im Gottesdienst auch nicht einfach raus, wenn die Predigt nicht gefällt. Deshalb schauen wir alles bis zum bitteren Ende an. Vielleicht reißen die letzten zwei Minuten alles raus.
Tun sie nie. Allerdings sind es gar nicht so sehr viele Vorschläge, bei denen die Jury – im Guten wie im Schlechten – sofort einer Meinung ist. Wir haben nämlich ganz unterschiedliche Horizonte und berufliche Erfahrungen. Erwachsenenbildung, Dokumentarfilm, Journalismus. Es sind sehr verschiedene Blickwinkel, von denen aus wir auf die Welt und auf den Bildschirm schauen.
Das hätte seinen Reiz, wenn man nicht rasch zu einer gemeinsamen Entscheidung kommen müsste. Am Anfang versuchen wir noch, uns gegenseitig mit unseren hübschen Pfauenfedern zu beeindrucken und das eine oder andere Rad zu schlagen. Das weicht schnell der Fassungslosigkeit darüber, dass andere die eigenen Argumente nicht einsehen, obwohl die doch so ganz offensichtlich überzeugend sind.
Und dann ist da dieses Misstrauen: Gibt es Geheimabsprachen? Wenn du für meinen Vorschlag stimmst, dann stimme ich für deinen?
Ja, solche Absprachen gibt es offenbar. Aber sie bringen nicht viel. Koalitionen sind flüchtig, wenn es keine objektiven gemeinsamen Interessen, sondern nur halbwegs ähnliche Kriterien für Entscheidungen gibt.
Faszinierend ist etwas ganz anderes: wie sich langsam und allmählich zwischen unterschiedlichen Leuten eine gemeinsame Vernunft und eine gemeinsame Diskussionsgrundlage herausmendelt, wenn es einmal tatsächlich nur um die Sache geht. Und nicht um langfristige Strategien und Hintergedanken.
Meine Lieblingssendung hat übrigens keinen Preis bekommen. Trotzdem finde ich das Gesamtergebnis der Jury-Entscheidung ziemlich überzeugend. Und im Rückblick haben die Beratungen sogar Spaß gemacht. Im Rückblick.
Fragen an die Jury? kolumne@taz.de Morgen: Jan Feddersen PARALLELGESELLSCHAFT