BETTINA GAUS POLITIK VON OBEN : Gefährliche Wahrheiten
Politiker verbieten Kollegen gern mal den Mund: Doch nicht im Wahlkampf! Nun gibt es die Steigerung: Eine offene Diskussion soll lebensbedrohlich sein
Ihr sei bei der Schweinegrippe-Impfung nicht wohl, sagte kürzlich eine Abgeordnete im Gespräch. Sie fürchte, es handele sich nur um eine verdeckte Subventionierung der Pharmaindustrie. „Aber ich traue mich nicht, das laut zu sagen. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand stirbt, weil er sich wegen dieses Arguments nicht impfen lässt, und ich bin daran schuld – das könnte ich nicht verantworten.“
Ruprecht Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, hat den früheren Verteidigungsminister Volker Rühe kritisiert, der den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan binnen zwei Jahren gefordert hat: „Die Diskussion ist gefährlich. Wenn die Taliban merken, dass in Deutschland eine große Debatte losgetreten wird, werden sie noch mehr Anschläge auf die Bundeswehr verüben.“ Der ehemalige Nato-General Klaus-Dieter Naumann meinte zu Rühes Äußerung: „Grundsätzlich stimme ich der Kritik zu, halte sie aber in Wahlkampfzeiten für falsch.“
Vor welchem Thema wird nächste Woche gewarnt? Mich überfällt bei derartigen Sätzen bleierne Müdigkeit. In vergangenen Wahlkämpfen war es üblich geworden, eine Frage für „zu wichtig“ zu erklären, als dass sie „für Wahlpropaganda missbraucht“ werden dürfte. Meist bedienten sich Vertreter der Regierungsparteien dieser Floskel – aus durchsichtigen Gründen. Schon darin drückte sich ein seltsames Verständnis von Demokratie aus. Aber die Mahnung, eine offene Diskussion gefährde Menschenleben, ist doch eine bemerkenswerte Steigerung des Versuchs, einen Wahlkampf für bedrohlich und dem Gemeinwohl abträglich zu erklären.
Es soll hier kein Spott mit Gewissensnöten getrieben werden. Aber wo kommen wir hin, wenn wir über einen Militäreinsatz nicht reden dürfen, weil jede Diskussion eine zusätzliche Gefährdung von Soldaten bedeuten kann, die ohne den Einsatz gar nicht gefährdet wären?
Politische Entscheidungen haben die Eigenschaft, ins Leben der Regierten einzugreifen. Gelegentlich eben auf bedrohliche Weise. Es muss nicht um Krieg oder Epidemien gehen. Auch Kürzungen von Sozialleistungen oder eine falsche Energiepolitik können dramatische Folgen haben. Also lieber gar nicht drüber reden? Wahr ist: Man kann auch über Themen wie den Aufbau des Berliner Stadtschlosses trefflich streiten. Und eine derartige Beschränkung würde den Wahlkampf sicher noch entschärfen.
■ Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: Amélie Losier