BERNHARD PÖTTER über KINDER : Im Wartesaal des Sozialstaates
Die Meldestelle ist der Vorhof zur Hölle. Aber sie könnte zum kinderfreundlichen Jobcenter werden
Ding Dong.
Die Tafel an der Wand zeigt Nummer 34. Ich schaue auf meine Marke: 73. Auf der Anzeige an dem Automaten, wo man in der Meldestelle die Marken zieht, steht: „Vor Ihnen sind noch 39 Nummern.“
Das ist nicht das, was man am Montagmorgen lesen will.
Ding Dong.
Ich habe vorgesorgt. Habe ein Buch mitgebracht. Die Zeitung. Ich gehe einkaufen. Ich fahre zur Sparkasse. Ich habe das Handy bei mir, um Dinge zu erledigen. Vor allem sind die Kinder nicht dabei.
Ding Dong.
Die Mutter neben mir leistet sich diesen Luxus nicht. Ihre beiden Jungen, vielleicht drei und fünf Jahre alt, rangeln zwischen den Stühlen, stoßen an die Topfpflanzen. Ihr Luftballon knallt mit einer gewaltigen Explosion. Auf der Treppe stillt eine türkische Mutter ihr Baby. Draußen regnet es Bindfäden.
Ding Dong.
In der Zeitung ist die Rede von Hartz IV. Der Kanzler wundert sich, dass es unpopulär ist, den Arbeitslosen weniger Geld und nicht mehr Arbeit zu geben. Und sie stattdessen auf Behörden wie diese zu schicken. Wo das Gebäude so aussieht, als hätte hier noch gestern die Geheimpolizei Menschen durch die Flure geschleift. „Wenn ihr nicht sofort ruhig seid, dann machen wir keine Ausweise und fahren nicht zu Oma“, zischt die Mutter neben mir ihren Kindern zu.
Ding Dong.
„Warum machen wir die Agenda 2010?“, fragt draußen vor dem Fenster ein großes Plakat. Der wirkliche Grund steht natürlich nicht da: Um den Leuten in den Hintern zu treten. Um ihnen zu sagen: Geld ist nicht mehr da. Sorgt für euch selbst. Verlasst euch nicht auf den Staat. Aber dafür bräuchte man keine Agenda 2010 – nach einem Vormittag auf der Meldebehörde verlässt sich niemand mehr auf den Staat.
Ding Dong.
Dabei könnte dieses Gemäuer hier ein Jobcenter sein. Warum gibt es niemanden, der dieses hirnlose Vor-sich-hin-Warten nutzt, um sich und uns allen eine Dienstleistung zu erfinden? Warum sammelt niemand unsere Nummern und Handynummern ein, schickt uns einkaufen und Kaffee trinken und ruft uns an, wenn wir dran sind? Man stelle sich vor: Im Eingang der Behörde eine Empfangstheke mit netten Menschen, die sich „Administration Managers“ nennen: Die sagen einem sofort, welche Unterlagen man braucht, wie man die Formulare ausfüllt. Vielleicht bieten sie einem einen Tee an – und sie bringen die Kinder in das Spielzimmer. Oder auf den Fußballplatz um die Ecke. Wäre Ihnen das nicht fünf Euro wert? Mir schon. Und wenn die Mutter im Wartesaal nicht zahlen könnte, würde ich ihr was spenden.
Ding Dong.
In Deutschland gibt es vier Millionen Arbeitslose? Es gibt aber auch 40 Millionen Menschen, die die besten Jahre ihres Lebens auf den Fluren der Arbeits-, Sozial-, Melde- und sonstigen Ämtern vergeuden. Der Markt ist riesig, die Berufsbilder hochgradig innovativ: Für Behördendolmetscher, Administration Managers, Warteschlangen-Logistiker („Line Supervisors“), Gepäckaufbewahrer („Baggage Storage“), Kaffee- und Brötchen-Caterer und vor allem Kinderbeschäftiger. Meinetwegen sollen sie den „Dachverband der deutschen BehördennutzerhelferInnen“ (DVdBN) gründen. Ich will nur nicht mit ansehen, wie die Mutter neben mir fast ihre Kinder verdrischt, weil sie ihr und auch allen anderen auf die Nerven gehen.
Ding Dong.
„Nummer 73“. Nach zweieinhalb Stunden Warten bin ich in eineinhalb Minuten fertig. Die Mutter sitzt am Nachbartisch. Den zappelnden Kindern sagen die Behördendamen: „Na, ihr macht es eurer Mutter ja auch nicht leicht.“ Im Gegenteil. Für zweieinhalb Stunden Langeweile waren die Jungs extrem brav.
Zu Hause ist Anna entsetzt. „Warum ist die Frau denn nicht vorgegangen? Mit kleinen Kindern wird man doch bei vielen Ämtern vorgelassen und muss nicht ewig warten.“
Ist das so? Davon hatte ich keine Ahnung.
Ohne „Administration Manager“ bin ich völlig hilflos.
Fragen zu Amnesie? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn RÖTKÄPPCHEN