BERNHARD PÖTTER über KINDER : Zwischen 3nte und Firsich
Lesen und Schreiben sind wichtige Fähigkeiten. Man lernt sie am besten mit Häuserwänden
Lesen ist wieder in. Im Radio erzählen sie was von der Buchmesse. In dieser Zeitung werben wir für das Zeitungslesen. Im Fernsehen rät Elke Heidenreich dazu, den Fernseher auszuschalten und zu lesen.
Bücher sind ja auch ungemein praktisch. Nur die gebundene Ausgabe von „Vom Winde verweht“ besitzt genügend Durchschlagkraft, um Wespen wirksam zu erledigen. Ohne die Bände von „Harry Potter“ unter dem Hintern reichen unsere Kinder niemals an den Esstisch. Und Bücher stillen den Bildungshunger. Baby Stan vertieft sich schmatzend in sein „Bildergeschichten vom Bauernhof“.
Und deshalb lernt Jonas das kyrillische Alphabet. „Das R schreibt man andersrum“, sagt Anna, die sich mit ihm über seine Fibel beugt. „Und hier, das E hat seine offene Seite nach rechts.“ Jonas schreibt: 3nte. Soll heißen: Ente. Seine Bleistiftstriche erinnern an den Mix aus ausgesprochenen Worten und lautgemalten Zahlen, den Amerikaner gern für ihre Aufkleber an der Stoßstange verwenden: „2 Fast 4 U!“.
Jonas’ Handhaltung allerdings erinnert daran, dass unsere ersten Werkzeuge Faustkeile und nicht Bleistifte waren. Bei ihm will der Radiergummi wirklich ausradieren – Gefangene werden nicht gemacht. Umso erstaunlicher, wie schnell die Schüler „O“s und „A“s auf das Papier zirkeln, ohne die Hefte zu zerreißen oder sich die Finger zu brechen. Jeder einzelne Buchstabe wird erobert. Irgendwann erlahmt selbst der Widerstand des Y.
„Sie lernen sogar Schreibschrift!“, sagt Anna, völlig verblüfft. In der Tat: Kringelchen und Schleifchen an den Buchstaben tauchen auf, die die Einzelkämpfer aus dem Alphabet zu Lindwürmern aus Buchstaben formen. Ähnlich ausgestorben wie die Drachen aus den Märchen ist allerdings auch die Schreibschrift: Damit werden sie sich durch die Schule quälen. Ehe sie dann ihre eigene Mischung aus Block-, Schreib- und Geheimschrift entwickeln, die dann Handschrift genannt wird. Oder ehe sie am Computer schreiben.
Um das Lesenlernen habe ich bei Jonas keine Bange. Schließlich wird es jetzt warm. Schließlich leben wir in Berlin-Kreuzberg. Und hier tauchen nach der langen nasskalten Jahreszeit, in der dem Sprayer der Zeigefinger gefriert, pünktlich mit den ersten duftenden Hundehaufen auch jene Maiglöckchen auf, die in krakeligen Großbuchstaben meinen Kindern das Lesen am realen Objekt vermitteln wollen. „B-E-R-L-I-N-B-R-E-N-N-T !“ liest Jonas an der Brandwand gegenüber . „1.-M-A-I-B-U-L-L-E-N-F-R-E-I !“, aber auch „P-E-T-E-R-L-I-E-B-T-U-T-E !“ oder „L-A-S-S-T-M-A-N-N-E-F-R-E-I !“ Jonas lernt, dass hinter jeden Satz ein Ausrufezeichen gehört!
Noch liest mein Sohn nicht. Noch hat seine Kulturtechnik mehr etwas von Morsen. Jonas fährt konzentriert mit dem Zeigefinger die Buchstaben ab und spricht sie einzeln laut aus, bis er „D-A-I-S-T-M-A-M-A“ zu „Da ist Mama“ zusammenzieht. Er liest. Wir tun das nicht mehr, wir decodieren ganze Worte, Satzteile, Sätze. Wer in seinem Leben millionenfach Wörtern begegnet ist, der scannt sie nur noch und stutzt höchstens bei Fehlern oder ungewöhnlichen Worten. Wir lesen auch, was nicht da steht, wenn wir es erwarten. Unerwartetes wird einfach überlesen.
Jonas kann das nicht passieren. Er schreibt, wie er die Worte hört. Also: HOITE ISST DINSTAK. DAS AUTO IST BESCH. ULA KOMMT ZU MIA (Mia? Mir? Der Raumstation MIR?). KAUBEUS UND INJANA. Diese „Schreibwiedushörst“-Sprache liegt im Niemandsland zwischen neuer Rechtschreibung einerseits, wo der Ingeniör das Schikore kauft, und andererseits unserem Gemüsemarkt, wo die türkischen Händler fröhlich und ohne schlechtes Gewissen mit „Firsichen“, „Kurken“, „Flaum“ und „Blaubären“ handeln.
Nur wenn Jonas ein Begriff wirklich wichtig ist, versichert er sich vorher, dass er ihn auch richtig schreibt. Und so zeigte er letzte Woche stolz auf sein erstes fünfsilbiges Wort, das er ganz allein mit krakeligen Kreidelettern an die kleine Tafel in der Küche geschrieben hatte: A-T-O-M-R-A-K-E-T-E.
Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Blaubären? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler ZEITSCHLEIFE