BERNHARD GESSLER STETHOSKOP : Eine Seuchengeschichte aus dem Sumpf
Wer Urlaub in der Camargue macht, muss sich auf „dreckige Sümpfe“ gefasst machen. Haben deren Ausdünstungen unsere Kinder krank gemacht? Um das rauszufinden, reicht die Zeit nicht
Nach den Seminaren in Seuchengeschichte während meiner Studienzeit hätte ich es wissen müssen: Eine Reise in den „schönsten Sumpf der Welt“, die Camargue in Südfrankreich, birgt Gesundheitsrisiken. Was als erholsamer Familienurlaub – mit Kinderbetreuung zu saftigen Preisen – geplant war, entpuppte sich als Fiasko.
Bereits ab dem dritten Urlaubstag wurden unsere drei kleinen Kinder, schön brav nacheinander, von einem hoch fieberhaften Infekt befallen. Dieser machte, statt einer Kinderbetreuung durch ein hoch motiviertes Animateurinnenteam, die Krankenpflege durch tief frustrierte Eltern geschlagene elf Tage lang notwendig. An und für sich eine banale Begebenheit. Aber war das Zufall?
Die antike Medizin vermutete miasmata, „Unreinheiten“ der Luft, die aus Fäulnis (griechisch: sepsis) entstanden, als Ursache von Seuchen. Diese krank machenden Ausdünstungen waberten natürlich vorzugsweise über Sümpfen und Lagunen. Der Nachbarort unseres Feriendomizils hieß Aigues Mortes, von aquae mortuae, tote Gewässer. Der Gründer dieses schmucken Ortes, Ludwig IX., konnte die ersten Siedler nur mit vielen Privilegien „in diese von dreckigen und krankheiterregenden Sümpfen umgebende Stadt“ locken, wie es im Touri-Flyer heißt. Kein Wunder, dass Ludwig selbst 1270 auf einem Kreuzzug einer Seuche zum Opfer fiel.
In unserer Urlaubsnot erwog ich die Konsultation der ehrwürdigen Medizinischen Fakultät von Montpellier, die weniger als einen Tagesritt mit einem weißen Camargue-Hengst entfernt lag. Dort hätten die gelehrten medici oder physici neben klimatischen Erklärungen über die schlechte Luft – mala aria (daher Malaria) – sicher ungünstige Bewegungen der Planeten für unsere Familienepidemie verantwortlich gemacht. Ferner hätten sie mir Empfehlungen zur Diätetik gemäß der Säftelehre gegeben, um das Gleichgewicht der kindlichen Körpersäfte aus gelber und schwarzer Galle, Schleim und Blut wieder herzustellen. Allenfalls unter Vorauszahlung eines hohen Honorars hätten die Kollegen vielleicht ihre Pestmasken aufgesetzt, um an das Siechenbett zu eilen.
Wir heutigen Ärzte haben ein anderes Seuchenkonzept und wirksamere Therapien. Das macht die therapeutische Entscheidung im Einzelfall jedoch nicht unbedingt leichter: Nach Verwehung von eher dicker Luft zwischen meiner Frau (die Kinderärztin ist) und mir erhielten unsere zwei Söhne auf mein Betreiben hin jeweils ein Antibiotikum und genasen schnell. Ein abwartend-diätetisches Vorgehen hätte wahrscheinlich auch genügt. Aber Abwarten im Urlaub – das wäre eine zu lange Medizingeschichte geworden.
■ Der Autor ist Internist in Karlsruhe Foto: privat