BERNHARD GESSLER STETHOSKOP : Hass aus dem Wartezimmer
Auf den Arzt haben Sie gerade noch gewartet? Nach spätestens vierzig Minuten „Gala“ und „Stern“ im Lesezimmer sind Sie mit den Nerven runter. Und der Arzt auch, wenn Sie dann endlich vor ihm sitzen
Wenn man Bundesbürger befragt, was sie im Alltag am meisten verärgert, so gehören lange Wartezeiten beim Arzt zu den größten Ärgernissen des täglichen Lebens. Eigentlich ein guter Parameter für den Sättigungszustand und den Sorgenpegel eines Landes. Glückliches Deutschland, wenn das zu deinen schlimmsten Kränkungen gehört, ist man versucht zu sagen.
Aber ich möchte das Problem an dieser Stelle natürlich nicht klein schreiben. Wartezeiten beim Arzt mag niemand, außer vielleicht neugierige Verhaltensforscher, sensible Künstlerseelen und heimliche Gala-Leser. Für alle, die allerdings nicht an der Beobachtung von Mitwartenden, an kreativer Entschleunigung oder an der lustvollen Unterschreitung des eigenen, gefühlten intellektuellen Niveaus interessiert sind, bleibt die Wartezeit im Wartezimmer ein ernst zu nehmendes Problem. Dass diese Räumlichkeiten in Arztpraxen oft schön dekoriert sind und Lesezimmer genannt werden, ist allerdings leider keine Lösung.
Die Ursachen langer Wartezeiten sind in der täglichen Praxis vielfältig: zu hohes Patienten-Aufkommen, ein unerfahrener, überforderter oder müder Arzt, tratschende Patienten oder Ärzte, unkooperative Arzthelferinnen, unökonomische Abläufe, unrealistische Zeitvorgaben, überbordende Bürokratie – und so weiter.
Tatsache ist jedoch, dass mich – ebenso wie viele andere KollegInnen – im Berufsalltag kaum etwas so zu stressen vermag wie lange Wartezeiten meiner PatientInnen. Die im Laufe einer Sprechstunde auch noch immer länger werden! Es handelt sich nämlich um einen Teufelskreis; ein Circulus vitiosus (um einen schönen medizinischen Terminus zu verwenden) entsteht. Seine Entstehung ist leicht nachzuvollziehen: Zunehmender Stress und Zeitdruck verursachen ab einer gewissen Steigerungsstufe nun mal eher abfallendes Leistungsvermögen.
In einer solchen Situation kommen schnell Frustration, Überforderungs- und Versagensgefühle bis hin zu Aggressionen auf. Eine Patientin erzählte mir unlängst, dass ein niedergelassener Kollege vor ihren Augen mit den Fäusten völlig entgrenzt gegen einen Stahlschrank gehämmert und eine Hasstirade auf seine Patienten und Arzthelferinnen losgelassen habe. Aber selbst wenn es in solchen Ausnahmesituationen meistens nicht ganz so laut wird, mag die von manchen Patienten beklagte Knappheit, Verschlossenheit, Unfreundlichkeit und Arroganz mancher Kollegen ihren Ursprung auch in beständiger Überforderung, dauernder Angst und permanentem Zeitdruck haben.
Bekannt ist auch: Die Ursache von langen Wartezeiten sind lange Wartezeiten. Denn wenn ein Patient schon einmal länger als – sagen wir – 40 Minuten gewartet hat, dann handelt die Mehrheit nach dem Motto: Jetzt habe ich so lange gewartet, jetzt bin ich aber auch dran – das mühsam erkämpfte beziehungsweise erwartete Zeitfenster wird dann schließlich genutzt, um endlich mal so richtig auszupacken.
Welche Gedanken und Gefühle ein solches Verhalten in dieser Situation bei dem Arzt auslöst, brauche ich wohl nicht weiter zu erläutern. Wo ist die Vorspultaste? Wo ist der virtuelle Stahlschrank?
■ Der Autor lebt und arbeitet als Internist im baden-württembergischen Rastatt. Foto: privat