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Archiv-Artikel

BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER Eingerußt wie Gelsenkirchen in den Sixties

Natalie Tenbergs Gastro- und Gesellschaftskritik: Warum ist es im Dollinger in Charlottenburg eigentlich so voll? Etwa, weil geraucht wird?

In Berlin kann man in diesen unsteten Zeiten nie sicher sein. Entweder geht man mit einem militanten Nichtraucher zufällig in ein Raucherlokal, oder man schleppt den Hardcore-Raucher versehentlich in das einzige Nichtraucherlokal am Platz.

Der erste Freund, der mit ins raucherfreundliche Dollinger in Charlottenburg gehen sollte, weigerte sich. Der zweite ebenfalls. Der dritte hatte am Abend zuvor im Gainsbourg zu viel geraucht und wollte höchstens im Nichtraucherbereich sitzen. Er kam in seinem geduschten Zustand nicht umhin, regelmäßig anzumerken, wie sehr der Laden stinkt.

Dass hier jahrelang dem Tabak gefröhnt wurde, sieht man dem Lokal an. An einem grauen Tag erscheint die hohe Backsteinwand an einem Ende des Ecklokals eingerußt wie Gelsenkirchen in den Sixties. Dass die Decke dunkelbraun gestrichen ist und auf der Theke riesige, angelaufene Metallskulpturen stehen, dass das Parkett abgelaufen ist, all das versaut dem Dollinger den Eindruck der Frische. Da geht es dem Laden wie dem Mann, der an einem Bartisch sitzt und seine essende Freundin zuqualmt: Rauchen beschleunigt seinen Alterungsprozess.

Jung ist der typische Dollinger-Gast sowieso nicht. Ältere Männer in Lederjacken, wie sie gerne von sozialdemokratischen Genossen getragen werden, sitzen beim Bier zusammen. Egal, ob es zwölf Uhr mittags oder abends ist. Das vorzeitige Altern muss sich sicher auch auf die Frühverrentung der Stammgäste ausgewirkt haben. Selbst aktuelle Ausgaben von Magazinen haben hier schon Patina angelegt.

Vielleicht erinnern sich die älteren Gäste gerne an Zeiten, in denen das Dollinger ein uriger, netter Laden war. Heute ist davon wenig zu spüren. Die eine Kellnerin scheint für das ganze Lokal verantwortlich zu sein und hat zu viel zu tun. Ihre leichte Gereiztheit mag man entschuldigen, erwies sie sich doch auch schon als zuvorkommend.

Die wahren Abgründe tun sich auf, sobald das Essen serviert wird. Das Bauernfrühstück, ein deftiges Rührei mit Kartoffeln, ist angebrannt. Das Zanderfilet auf Rahmwirsing mit Salzkartoffeln schmeckt überbuttrig. Derjenige, der die Waldpilze zu den Gnocchi bestellt hat, vergleicht sie optisch und geschmacklich mit Nacktschnecken und lässt sie auf dem Teller liegen. Wahrscheinlich sind die Gäste im Dollinger recht unkritisch geworden. Wer will schon meckern, solange er sich nach dem Essen eine anstecken darf? Das muss der Grund dafür sein, dass es im Dollinger knallvoll ist. Anders ist es wirklich nicht zu erklären.

RESTAURANT CAFE DOLLINGER, Stuttgarter Platz 21, 10627 Berlin, (0 30) 3 23 87 83, tägl. 9–2 Uhr, S-Bahn Charlottenburg, Cola EUR 1,70, Frühstück ab € 2,70, Hauptgerichte ab € 7,30