BERLIN - VON KENNERN FÜR KENNER : Der Lebensfaden
Leerstelle (8): Die Oberleitung spinnt Erinnerung, so weit die Planer es wollen – nicht nur an der Otto-Braun-Straße
An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens.
Gibt es unter dem Himmel über Berlin noch einen anderen? Sieht man von zwar hektargroßen glasüberspannten Einkaufspassagen ab, eigentlich nicht. In der Stadtgeschichte fehlt das Dach, das eine über allem. Wenn es schon kein Dach gibt, gibt es immerhin ein Zeichen. Dafür hängt die Oberleitung ihr Netzwerk aus zwischen den Straßen, das die Stadteile (nicht alle) beieinander hält.
Als noch nicht an die Entzweiung Berlins nach Himmelsrichtungen zu denken war, zeichneten die Generalbebauungspläne den Organismus der Moderne auf – von Hobrecht bis Speer. Gegen Zersiedelung in unüberblickbare Mietskasernenschären sollten ringförmig angelegte Magistralen und Sternkonzepte Abhilfe schaffen und schafften es nicht. Erst der Weltkrieg, Mutter aller Generalbebauungspläne, konnte die märkische Siedlung mit Gewalt bereinigen, hauptverantwortlich dafür wird ein Österreicher benannt. Am städteplanerischen Resultat ändern konnte bis heute kaum die deutsche Einheit etwas, in der Hauptstadt ohnehin durchaus nicht angesehen als Gewinn. Und Strukturanpassungsmaßnahmen wie die früher Aufschwung, heute Aufbau Ost genannte, haben der Stadt ein Flair verpasst, das dem Düsseldorfs und Braunschweigs inzwischen ähnlicher ist als der Osten Berlins heute dem Ostberlin um 1990. Und nicht nur weil der Todesmauerstreifen umgewandelt zur verkehrsberuhigten Zone ist, hat der Stau die Stadt im Griff. Dass Straßenbahnen daran etwas änderten, dürfen nur Kinder noch glauben und sehr alte Leute, die eines als Passanten verbindet: der Körperkontakt mit den Schienen und das Urgefühl des Staunens. Die Ersteren staunen, weil sie eben erst entdecken, die andern, weil sie sich erinnern an Strecken, auf denen die Elektrische – „Das wissen Sie nicht? Aber sie hieß einmal so!“ – mit Rattern, Blitzen, Kreischen fuhr nach Plan.
Sie können heute noch in engen Winkeln abgelegener Bezirke (des Ostens nur, der Westen hat am 2. 10. 1967 das Kapitel zugunsten der Vergasermotoren beschlossen und seither die Spuren sauber mit Asphalt belegt) Gleise finden, die im Pflaster liegen wie ihr eigenes Mahnmal oder Kunst am Boden. Von Trolleybuslinien keine Rede; wenn Sie heute zu sprechen kommen auf verflossene Errungenschaften wie den O-Bus, wird man Sie bestenfalls nach einem Cocktail fragen; nach einem Verkehrsmittel für den Massentransport eher nicht. Von den listig ausgelegten Strängen auf der Oberbaumbrücke und in der Leipziger Straße, von den Theoremen zur Re-Elektrifizierung der Bernauer Straße und sonstwo zu reden, hält auch seine Schwierigkeiten bereit – sie werden in diesem System nicht befahren werden, das ist so sicher, wie der Kapitalismus vorläufig ewig ist.
Die Straßenbahn der Gegenwart rollt auf separaten Trassen, nicht wie der Zug der Vergangenheit auf der Straße, und so sind die Oberleitungen verlegt. Nicht wie Paketschnüre zwischen Häuserfronten, die überdies den Himmel verdrahten als überholtes Zeichen des Fortschritts. Wenn auch die Oberleitung zwischen eisernen Pilastern stracks über der eigenen Fahrspur verläuft wie ein Lot gespiegelt über dem andern, hat sie doch von früher Spuren hinterlassen, in die kann man einen Finger legen wie in eine Wunde. Wie in ein restauriertes Einschussloch. Vorausgesetzt, man befindet sich auf erhöhter Position, sechs Meter knapp über Bordstein: Es sind die alten Halterungen, angebracht an Giebelseiten und Simsen wie zuvor die metallenen Röhren, Fahnenhalter genannt, in denen die Bewohner Flagge zeigen konnten, wenn sie wollten oder mussten.
Man kann es auch so sehen: Die Oberleitung spinnt die Fäden der Erinnerung mit parzenhafter Konsequenz und so weit die Verkehrsplaner es wollen. Dem Gespinst der Schicksalsgöttinnen entspricht die Oberleitung nur bedingt in symbolischer Weise, wie der Lebensfaden eben auch nur allegorisch steht für Werden und Verfall und Schluss. Denken Sie an die Zerkleinerung binnen zwei Stunden von 24 Straßenbahnen (auf Achsen gerechnet 576-fach) jenes unglücklichen Fußgängers, der an der Ecke Kopernikus-/Warschauerstraße vom Augenarzt in die Straßenbahn Linie 23 lief, ohne noch einsteigen zu können. Denken Sie dran, wenn Sie nach oben sehen an einer Kreuzung ins Gewirr der Kupferdrähte, die wippen wie ein an sich selbst verrückt gewordener Eierschneider, denken Sie dran. THOMAS MARTIN