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Archiv-Artikel

BERGHAIN UND DANACH FÜNF TAGE RÜCKENSCHMERZEN. MUSS DAS MIT ÜBER VIERZIG WIRKLICH SEIN? Sekt und Schlimmeres

MARTIN REICHERT

Alte Streitigkeiten soll man nicht aufwärmen und auch keine schlafenden Hunde wecken. Die Vergangenheit, man soll sie ruhen lassen – und doch war es seltsam berührend, als mich ein Freund anlässlich des neuen Jahres an einen Streit erinnerte, der sich vor vielleicht sieben Jahren zugetragen hatte.

An einem Silvesterabend haben wir zusammen gesessen in Brandenburg an einem gemütlich prasselnden Kamin, und doch waren die Fetzen geflogen. Er hatte sich seinerzeit schwärmerisch über Brigitte Bardot geäußert, worauf ich ihn unfreundlich darauf hingewiesen hatte, dass es sich bei dieser Dame um eine Front-National-Olle handele, die unter anderem auch gegen Schwule hetze.

Es kam, wie es kommen musste: Am Ende war ich der durchgedrehte Gay Taliban, der mit Schaum vor dem Mund die Regenbogenflagge hin und herschwenkt, während er behauptete, dass es doch überhaupt kein Problem sei, schwul zu sein und dass ich mich überhaupt bitte schön nicht so anstellen solle.

Wie oft hatte ich diese Diskussion schon in den Jahren zuvor geführt, mit zahllosen schwulen Freunden in meinem Alter, die sich durch die Clubs und Fitnessstudios der Neunziger und Nuller gehangelt hatten; gut aussehend, erfolgreich und immer bester Laune. Und so weiter.

Doch erst jetzt, um die vierzig, fängt das Nachdenken an. Die ersten Therapien kommen zu ihrem Abschluss oder werden gerade erst begonnen. „Du hattest recht damals“, hat er mir gesagt, „ich wollte einfach nichts davon wissen. Und erst jetzt wird mir klar, welche Beschädigungen ich davongetragen habe. Aus der Jugend, aus der Schulzeit.“

Nie wurde früher darüber gesprochen, wie es eigentlich war, von allen ausgelacht zu werden. Nie wurde darüber gesprochen, welche Ängste wir vor und während des Coming-outs gehabt hatten: entweder zu einer lächerlichen Figur zu werden oder an Aids zu sterben. Oder eben beides.

Stattdessen wurden dann all die Small-Town-Boys coole Großstadt-„Gays“ mit möglichst dicken Armen, bei deren Anblick Uneingeweihte denken mussten, dass es sich um martialische Schlägertrupps handelt – wenn auch seltsamerweise mit weißen Marken-Unterhosen, die über dem Bund der Hose herausschauen.

Und nun, in der Lebensmitte, werden diese Small-Town-Boys dann doch langsam erwachsen. Das ist nicht leicht, wenn man Verantwortung vornehmlich für sich selbst trägt, anstatt sich um Kinder kümmern zu müssen; aber es funktioniert eben doch. Wie schön, Begleiter auf diesem Weg zu haben. Menschen, die ein vergleichbares Schicksal erlitten haben und sich nun die gleichen Fragen stellen. Und die sich nun im reiferen Alter politisieren.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

DonnerstagMargarete StokowskiLuft und Liebe

FreitagMichael BrakeKreaturen

MontagMaik SöhlerDarum

DienstagSonja VogelGerman Angst

MittwochAnja MaierZumutung

Gefeiert haben wir trotzdem ordentlich. Am Heiligen Abend mit Kitschweihnachtsbaum, an Silvester mit Sekt und Schlimmerem.

Wir haben das alles irgendwie überlebt. Aber warum müssen dann alle unbedingt noch zwei Tage am Stück weiterfeiern. Berghain und danach fünf Tage Rückenschmerzen. Muss das mit über vierzig wirklich sein? Klaus Mann hatte wohl doch recht. Es gibt keine Ruhe, bis zum Schluss.