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Archiv-Artikel

BEN BECKER: DER UNPOLITISCHSTE KÜNSTLER DES JAHRES Der Nimbus der Grenzüberschreitung

Knapp überm Boulevard

VON ISOLDE CHARIM

Der Künstler Julius Deutschbauer vergab dieser Tage im neuen Theater Werk X in Wien zum dritten Mal Theaterpreise, die keiner haben will. Unter dem Motto: „Suche die unpolitischste Theaterproduktion 2013/2014“ werden Antipreise verliehen. Diesmal war ich Mitglied der Jury. Ich habe meinen „Sieger“ in der Kategorie: „Helden und Heldinnen der Provinz“ gekürt. Hier meine Laudatio:

Dieser Preis, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat zwei Besonderheiten: Erstens – er erlaubt es der Jury ungehemmt, alle Ressentiments auszuleben, die sich übers Jahr angesammelt haben: „Und der kommt auch auf die Liste! Und der auch noch!“

Zweitens aber kommt dann ein Moment, wo das kippt. Wo das Ressentiment in echte, in ernste, in ernst zu nehmende Empörung kippt. Das ist der Moment, wo man einen Sieger kürt. Ich habe Ben Becker gewählt.

Ich möchte mit Ihnen eine Linie ziehen, einen Strich – einen Gedankenstrich. An dessen einem Ende steht – vielleicht etwas unerwartet – Charlie Chaplin. Charlie Chaplin in „Der große Diktator“. Nicht die Szene, wo er mit der Weltkugel als Luftballon tanzt, sondern jene Szene, wo er Hitler parodiert. Er hält, als Diktator Hynkel, eine Rede in einem fiktiven Sprachengemisch: „Schtonk Demokratie! Free Sprecken Schtonk!“ Nur Tonfall, Mimik und Gesten zeigen, worum es geht. Diese Rede funktioniert – und wo ist das angemessener anzumerken als in einem Theater? – sie funktioniert wie ein V-Effekt: Die Unverständlichkeit ist eine Verfremdung, die zeigt, wie der faschistische Sprachgestus funktioniert: Vor allem der Inhalt funktioniert über eine unbewusste, affektive Botschaft von Aggression und Pathos.

Weihe und Pathos

Am anderen, am entgegengesetzten Ende unserer Linie steht – Ben Becker beim Konzert der Böhsen Onkelz. Das ist jene Band, deren einschlägiger Ruhm auf Songs wie „Türken raus“ oder „Deutschland den Deutschen“ gründet, die sich später allerdings davon distanzierten. Am 24. Juni 2014 begingen die Böhsen Onkelz am Hockenheimring ein Comeback-Konzert vor Hunderttausenden Fans – und als Ansager, als Vorprogramm kam der Schauspieler Ben Becker auf die Bühne.

Was dann folgte, war ein achtminütiger, zusammenhangloser Wortschwall aus apokalyptischen Bibelzitaten, vermischt mit Songtiteln der Böhsen Onkelz: „Und der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei! Nichts ist für die Ewigkeit!“ Erstere Bibelstelle verleiht dabei – unter Umgehung von Sinn – zweiterem Songtitel Weihe und Pathos. Wie bei Chaplin haben wir eine sinnfreie Rede und einen intensiven Sprachgestus. Aber während es bei Chaplin darum geht, den emotionalen Effekt solcher Reden auszustellen, ging es bei Becker um das Gegenteil. Der Sprachgestus aus Aggression und heiligem Ernst sollte das beschwören, was Chaplin im Lachen auflösen wollte. Es war ein Anti-V-Effekt, den Becker lieferte.

Becker hat mit seinem wirren, aber hohen Ton versucht, eine geeinte Masse herzustellen – etwa indem er das Publikum zum Chor machte, der mit ihm gemeinsam „Nichts ist für die Ewigkeit!“ skandierte. Er hat so das Ereignis auf den Ton eines heidnischen Gottesdienstes gestimmt – also genau das, was die Böhsen Onkelz mit ihren Konzerten versuchen.

Der rebellische Poseur

Im selben Zug inszenierte sich Becker als Außenseiter, ganz gemäß der Wagenburgmentalität der Böhsen-Onkelz-Fans, denen ihre Band versichert: „Wir bleiben, das Feindbild Nr. 1, wir bleiben!“ Das ist für einen erfolgreichen Schauspieler doch ein schöner Mehrwert: der Außenseiterstatus, der Rebellenstatus. Und folgerichtig schrie er: „Es gibt ein paar Leute, die werden mich verfluchen, weil ich hier stehe!“ Da kann man schön Skandalkapital lukrieren. Gemäß dem Böhsen-Onkelz-Motto: „Gehasst. Verdammt. Vergöttert.“ Da kann man ein Theaterstar sein und auch noch den Nimbus des Grenzüberschreitens kassieren.

Der Rebell riskiert etwas beim Überschreiten der Linie. Der rebellische Poseur, der posierende Rebell aber überschreitet die Linie nicht – er geht am Strich. Ben Beckers einziges Risiko war, den Preis für die unpolitischste Aufführung zu bekommen. Das ist ihm gelungen.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien