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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Verdammtes Volkskammerflimmern

Die Wahl des höchsten Organs der Staatsmacht war für jeden DDR-Bürger Pflicht. Wehe dem, der ihr nicht nachkam!

Rückblickend betrachtet waren sie gar nicht so schlecht, die Volkskammerwahlen in der DDR. Man wusste schon vorher, wer mit 99 Prozent gewinnen würde, und auch, was einen danach erwartete. Obwohl alles derart vorbestimmt war, ging man in die Wahlkabine und machte sein Kreuz. Aus einem ganz simplen Grund: Es war eine verdammte Pflicht. Außerdem wurde uns gesagt, dass die Wahl des höchsten Organs der Staatsmacht für jeden Bürger von großer Bedeutung sei und ein wichtiger Schritt zur Stärkung des sozialistischen Staates.

Das Problem war, dass ich die Sache anders und die „Bedeutung“ nicht sah. Auch behagte es mir nicht, dass ich gezwungen wurde, ein Kreuz für eine abgekartete Sache zu machen. Deshalb versuchte ich 1986, mich der Wahl zu entziehen, ohne mich strafbar zu machen.

Das war gar nicht so einfach. Denn ich war nicht von der Wahl ausgeschlossen. Ich war nicht entmündigt, stand nicht unter vorläufiger Vormundschaft und litt auch nicht wirklich unter geistigen Gebrechen. Ich war also im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, was mir dann auch zu der genialen Idee verhalf, den Staat mit seinen eigenen Waffen zu schlagen!

Ich dolmetschte damals in Leipzig für kubanische Landwirtschaftsfritzen, die sich in sächsischen Produktionsgenossenschaften ein Bild vom sozialistischen Acker machten. Meine Arbeitswoche dauerte normalerweise von Montag bis Freitag. Überstunden für den Aufbau des Sozialismus war ich nicht bereit zu leisten. Als aber der Wahlsonntag heranrückte, riss ich mich geradezu darum, mein Arbeitssoll zu überbieten. Ich bot den Kubanern an, an eben diesem Sonntag mit ihnen einen Ausflug zu machen. Sie nahmen begeistert an.

Ich nehme mal an, dass ich sie zum Völkerschlachtdenkmal schleppte, ins Museum für Völkerkunde, vielleicht auch ins Dimitroffmuseum. Jedenfalls leistete ich einen unschätzbaren Beitrag zur Stärkung der deutsch-kubanischen Beziehungen. Gegen 17.00 Uhr verabschiedete ich mich von den kubanischen Genossen und eilte nach Hause. Aufgeregt wartete ich in der Küche, dass es an der Tür klingelt und ein Wahlhelfer mich an meine Wahlpflicht erinnert.

Eine halbe Stunde später war es soweit. Entschlossen wurde die Klingel gedrückt. Entschlossen öffnete ich die Tür: „Sie wünschen?“, fragte ich scheinheilig.

„Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie verpflichtet sind, zu wählen, und dass Sie Ihrer Wahlpflicht noch nicht nachgekommen sind?“, fragte ein auf mich angesetzter Wahlhelfer, an dessen Äußeres ich mich nicht mehr erinnere.

Dafür weiß ich noch umso genauer, was für ein innerer Vorbeimarsch es mir war, ihm zu verklickern, warum ich das Kreuz nicht gemacht habe: „Ich bin heute einer anderen staatsbürgerlichen Pflicht nachgekommen.“

Überrascht schaute mich der Wahlhelfer an: „So?“

„Ja, so“, antwortete ich.

„Ich habe mich um die Festigung der Bruderbande zwischen unserem Land und Kuba gekümmert.“ Der Wahlhelfer verstand Bahnhof. „Ich bin Dolmetscherin“, klärte ich ihn auf, „und habe kubanischen Genossen einige unserer sozialistischen Errungenschaften gezeigt. Auf zwei Hochzeiten kann selbst ich nicht tanzen. Und jetzt möchte Sie bitten, zu gehen. Ich bin müde.“

Der Wahlhelfer war für solch eine Situation offensichtlich nicht geschult und wusste nicht, was er erwidern sollte. Still zog er die Wohnungstür hinter sich zu, während ich meinen Triumph auskostete. Viermal habe ich seitdem gewählt. Aus freien Stücken. Jetzt aber überlege ich wieder, nicht zur Wahlurne zu gehen, wenn es tatsächlich am 18. September vorgezogene Neuwahlen gibt. Warum? Irgendwie ist das doch auch so eine abgekartete Sache.

Das Problem ist nur: mein Gewissen. Schließlich ist die Wahl keine lästige Pflicht mehr. Aber zum Glück habe ich ja auch das Recht, nicht wählen zu gehen. Es bleiben noch drei Monate Zeit, mich zwischen Recht und Pflicht zu entscheiden. Diese Wahl habe ich auf jeden Fall.

Fragen an die Genossin? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN