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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Nicht nur gestolpert, nein, gestürzt

Sie ist eine Perle der Bürokratie, diese Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung

Bis vor kurzem dachte ich, ich würde mich gut zurechtfinden im wiedervereinigten Deutschland und davon profitieren, zwei Gesellschaftssysteme zu kennen. Doch seit ich neulich im Bundesanzeiger geblättert habe, bin ich mir nicht mehr so sicher. Im Bundesanzeiger werden seit 1949 alle gesetzlich vorgeschriebenen Bekanntmachungen und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht.

Wenige Monate vor den Neuwahlen, während Angela Merkel und andere schwergewichtige Politiker mit Versprechungen auf einen schlanken Staat auf Wählerfang gehen, dachte ich mir, guckste mal rein in den Bundesanzeiger. Das hätte ich nicht tun sollen.

Ich habe mich verloren inmitten der Verordnungen zur Änderung von Verordnungen, und ich fühle mich als Ostler wieder mal unterlegen. Denn auch bei der Schöpfung von zusammengesetzten Substantiven zeigt der Westen eindeutig mehr Kompetenz als damals der Osten. Das berühmte Wörtchen „Jahresendzeitflügelfigur“, das kirchenfeindliche DDR-Bürokraten als Alternative zum Weihnachtsengel ersonnen hatten, verblasst im Vergleich zu den Wörtern, über die ich im Bundesanzeiger nicht nur gestolpert, sondern gestürzt bin. Wenn sich noch einmal jemand in meiner Gegenwart über die Jahresendzeitflügelfiguren lustig macht, dann knalle ich ihm die Wortungetüme um die Ohren, die ich neuerdings im Ohr hab.

Bitte tief durchatmen und sich jede Silbe auf der Zunge zergehen lassen: Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung. Noch mal zum Mitschreiben? Aber gern. Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung. Immer noch nicht verstanden? Komisch. Der Bundesrat hat diesem Begriff in der „Verordnung zur Übertragung der Zuständigkeiten des Oberfinanzpräsidenten der Oberfinanzdirektion Berlin nach § 8 Satz 2 der Grundstücksverkehrsordnung auf das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen“ zugestimmt, und die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat es unterzeichnet. Vielleicht ist das hier etwas leichter: Vermögenszuordnungszuständigkeitsübertragungsverordnung. Nee, also wirklich, dafür bin ich damals nicht auf die Straße gegangen.

Nun ist es nicht so, dass die in den letzten Zügen liegende Bundesregierung nichts von ihrem Versprechen eingelöst hat, den Staat und die Verwaltung moderner zu machen und die Bürgerinnen und Bürger von überflüssigen Verwaltungspflichten zu befreien. Im Rahmen des „Großen Rechtsbereinigungsgesetzes“ wollte sie mehr als 300 Gesetze und Rechtsverordnungen abschaffen. Die Rechercheure sind tief in die Archive der Ministerien hinabgestiegen und haben die teils uralten Rechtssammlungen durchforstet.

Mit Erfolg! Es gelang den Beamten, die Kolonialzeit gesetzestechnisch zu beenden: Das „Gesetz über die Auflösung, Abwicklung und Löschung von Kolonialgesellschaften“ wurde gelöscht. Ebenso das „Reichsjagdgesetz“ aus dem Jahr 1934, das bis 1986 nur noch für Berlin aufrund seiner Sonderrolle gültig war.

Entsorgt wurden auch Vorschriften zur Wiedervereinigung, die längst überholt sind. Die „Verordnung über den Zeitpunkt der Verlagerung des Sitzes des Bundesverwaltungsgerichts von Berlin nach Leipzig“ etwa. Bravo! Schließlich arbeiten die Bundesrichter seit 2002 in Sachsen.

Für die Kanzlerkandidatin Merkel, die das Wort Bürokratieabbau ständig in ihrem hübschen Munde führt, bleibt aber noch genug zu tun. Und der Ruf nach einem vereinfachten Leben wird täglich lauter. Die Landfrauen beispielsweise, denen sich die Kanzlerkandidatin bekanntermaßen sehr verbunden fühlt, fordern einen Bürokratieabbau. Ebenso der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Die Spitzenorganisation aller Handwerkskammern, die sich als „kritischer Partner der Politik“ begreift, erwartet von der künftigen Bundesregierung sogar einen „Regierungsbeauftragten für den Bürokratieabbau“.

Ich werde den Bundesanzeiger in Zukunft regelmäßig lesen.

Fragen zur Bürokratie? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch über GERÜCHTE