BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Keine Doktorspiele im Osten
Landarztpraxen sind Ladenhüter. Auch die meines Vaters in Sachsen steht leer, obwohl sie geschichtsträchtig ist
Im Osten regiert der Mangel. Wieder. Mangel an Sicherheit. Mangel an Arbeitsplätzen. Mangel an Perspektiven. Zu allem Überfluss herrscht auch noch Mangel an Ärzten. Vor allem auf dem Land. Geht ein Mediziner in den Ruhestand, kann er sich die Suche nach einem Nachfolger sparen. Wer hat schon Bock, bei Wind und Wetter über die Dörfer zu zuckeln und Sonntag morgens wegen eines eitrigen Fingers aus dem Bett geklingelt zu werden. Zumal Eier von glücklichen Hühnern oder fette Gratisgänse zu Weihnachten die immer noch unterschiedliche Bezahlung in Ost und West nicht wettmachen.
Vor zwei Jahren zog mein Vater, ein Allgemeinarzt, den Stecker aus dem EKG-Gerät in seiner Praxis in Sachsen. Noch immer ist sie so eingerichtet wie am Tag seines Rentenantritts. Jederzeit könnte ein Kollege oder eine Kollegin in seinem Sprechzimmer Platz nehmen und loslegen. Wenn jemand Lust auf Doktorspiele im Osten hätte. Hat aber niemand.
Dabei wäre eine Übernahme der Praxis oder des Hauses, in dem sie untergebracht ist, eine wahre Geschichtslektion. Es ist eine dreistöckige Villa aus rotbraunen Klinkersteinen mit einem kleinen Wald und einem großen Garten, in dem eine Marienfigur steht, ebenfalls aus Klinkersteinen gemauert. Errichtet wurde sie in den 20er-Jahren von dem Besitzer einer Klinkerfabrik, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet.
Die Steine waren der ideale Baustoff für die Architekten der neuen Sachlichkeit und des so genannten Ziegel-Expressionismus. Trotzdem ging der Fabrikbesitzer vor dem Mauerbau in den Westen. Es müssen die politischen Verhältnisse gewesen sein. Sein Wohnhaus und seine Fabrik blieben und wurden Volkseigentum.
Mitte der 60er-Jahre wurde im Erdgeschoss der Fabrikantenvilla eine Praxis eingerichtet. Zu einer Zeit, als sich junge Ärzte noch nicht zierten, aufs Land zu gehen, trat mein Vater die Stelle mit Begeisterung und Idealismus an. Wir zogen aus einer engen Neubauwohnung in einer nahe gelegenen Kleinstadt in das großzügige Haus auf dem Land. Überlegenheit des Sozialismus hin oder her, der Arbeitsweg meines Vaters war damit noch kürzer als der des Fabrikanten.
Fast dreißig Jahre führte mein Vater die Reihenuntersuchungen im Klinkerwerk durch, kurierte er die Leiden seiner Patienten und natürlich auch die Wehwehchen seiner Familie. Bis die Mauer fiel. Da stand eine richtig große Operation an: eine Finanzoperation. Mein Vater hatte beschlossen, die staatliche Praxis privat weiterzuführen und die Villa samt Garten, Marienfigur und Wäldchen zu erwerben.
Doch plötzlich war alles wie in einem schlechten Film. An einem Sonntagnachmittag stand ein dickes Auto mit Westberliner Kennzeichen vor der Tür. Daraus entstieg ein Mann in einem dunklen Anzug. Er stellte sich als Schwiegersohn des längst verstorbenen Fabrikbesitzers vor und entwickelte Heimatgefühle für das sächsische Dorf, in dem er nie zuvor gewesen war. Ein mieser Trick, um den Preis für das Haus hochzutreiben, bei dem es irgendwelche Huddeleien mit dem Grundbuch gab. Nebenbei erwähnte er seinen Anwalt aus einer Kanzlei am noblen Kurfürstendamm. Meine Eltern waren so erschrocken, dass sie, statt sich nun ihrerseits einen Anwalt zu nehmen, bei der Bank einen Kredit aufnahmen. Sie hatten Angst, der Mann im dunklen Anzug könnte wiederkommen.
Bis zum Erreichen des Rentenalters haben sie für die Rückzahlung des Kredits gearbeitet und sich mit dem Punktesystem und der Gesundheitsreform herumgeschlagen. Jetzt gehört ihnen das Haus, in dem sie seit vierzig Jahren wohnen. Reich sind sie aber nicht geworden, nicht mal wohlhabend.
Vielleicht gestaltet sich die Suche nach einem Praxisnachfolger aber auch nur wegen des verdammten Klinkerwerks so schwierig. Bei offenem Fenster ist Tag und Nacht das penetrante Hämmern aus der Qualitätskontrolle der wieder privatisierten Fabrik zu hören. Klinkersteine als Baustoff scheinen wieder angesagt zu sein. Vielleicht kommen ja auch Landarztpraxen irgendwann wieder in Mode.
Fragen zur Praxis? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN