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Archiv-Artikel

Azubis ohne Chance KOMMENTAR VON CHRISTIAN FÜLLER

Das wär’ doch lustig. Alle angehenden Friseurinnen statten Ludwig Georg Braun einen Besuch ab – und halten mal vorm Haus der Wirtschaft in Berlin die Hand auf. Was sollen sie auch sonst tun? Das Einkommen von FriseurInnen-Azubis ist lächerlich. Zwischen 200 Euro (1. Lehrjahr Ost) und 500 Euro (3. Lehrjahr West) bekommen die Lehrlinge der Coiffeurskunst. Das ist zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben – und kommt jenem Betrag nahe, den der Chef der Industrie- und Handelskammern, Braun, als Sockellohn für alle Lehrberufe vorschlägt.

Nein, das ist kein blöder Braun’scher Scherz. Es gehört zum alljährlichen zynischen Sommerlochritual, an dem sich Medien, Arbeitgeberbosse und die Regierenden beteiligen. Immer dann, wenn sonst recht wenig los ist, zählt ein besonders investigativer Kollege die Azubiverträge des beginnenden Lehrjahres aus. Und dann wird hemmungslos schwadroniert.

Das System der Lehrlingsausbildung ist ein Paradebeispiel für die Starrheit in Deutschland. Jeder keift jeden an, jeder plärrt hinaus – was in seinem Interesse ist. Dabei sitzen sie alle – Arbeitgeber, Gewerkschaften, Staat – an einem Tisch, etwa, wenn sie die Ausbildungsordnungen verabschieden. Aber ein echtes Interesse an den Jugendlichen hat in Wahrheit keiner. Sonst hätten sie längst eingestanden, dass die duale Ausbildung zum einen in der Wirtschaft, zum anderen in der Berufsschule, also beim Staat, nur im Prinzip ein tolles System ist. In Wahrheit versagt die Wirtschaft – weil sie nie genug Plätze anbietet, etwa in Ostdeutschland, wo es längst ein System staatlicher überbetrieblicher Ausbildung gibt. Und versagt auch der Staat, weil in seinen Berufsschulen Innovation viel zu klein geschrieben wird.

Berufsausbildung ist eine Aufgabe von Staat und Wirtschaft. Aber sie kostet viel mehr Geld und Engagement, als beide zu geben bereit sind. Dass beide Seiten ritualisiert den jeweils anderen verantwortlich machen, ist ein Symbol. Es zeigt, dass der Gesellschaftsvertrag gebrochen ist. Die Übereinkunft nämlich, dass jeder Jugendliche die gleichen Chancen bekommen muss, wird nur noch wortreich beschworen – aber nicht mehr eingehalten.

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