Avni Doshis Roman „Burnt Sugar“: Unter emotionaler Dauerspannung

Gibt es dafür eine angemessene Sprache? Avni Doshis Debütroman „Burnt Sugar“ erzählt von einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung.

Zwei Frauen, vermutlich Mutter und Tochter, gehen in bunten Gewändern spazieren

Mütter können die seltsamsten Wesen bleiben, die wir treffen, schrieb Marguerite Duras einmal Foto: imago-images

I would be lying if I said my mother's misery has never given me pleasure.“ – „Zu sagen, dass das Elend meiner Mutter mich nie gefreut hat, wäre eine Lüge.“ Ich wünschte, ich könnte solche ersten Sätze schreiben. Das Eingangsstatement der Ich-Erzählerin in Avni Doshis Debütroman „Burnt Sugar“ ist wie ein Paukenschlag. Und was er einläutet, ist ein literarischer Tabubruch: Wie kann ein Buch umgehen mit der Hassliebe zu einer schlechten Mutter?

Der bisher nur auf Englisch erschienene und für den renommierten britischen Booker-Preis nominierte Roman spielt in der westindischen Metropole Pune. Die Künstlerin Antara ist frisch verheiratet, als ihre Mutter Tara beginnt, dement zu werden.

Der Gedächtnisverlust ihrer Mutter ist für die Tochter Anlass, sich an die turbulente gemeinsame Vergangenheit zu erinnern: Als kleines Mädchen nimmt ihre Mutter sie mit in den Ashram eines Sektenführers (angelehnt an Bhagwan Shree Rajneesh, Gegenstand der Netflix-Dokuserie „Wild Wild Country“). Dort ist das Kind sich selbst überlassen.

Während Tara ihrer Beziehung zum Guru „Baba“ nachgeht, verwahrlost Antara. Mit sieben Jahren kann sie weder schreiben noch sich auf eine fürsorgliche oder auch nur okaye Mutter verlassen. Den Absprung schafft das Duo erst, als Baba eine neue, jüngere Bettgenossin erkürt. Doch die Odyssee des Kinds setzt sich fort, weg von der depressiven Mutter schicken ihre Großeltern sie in ein katholisches Internat, wo sie wieder misshandelt und als „dirty Hindu“ beschimpft wird.

Avni Doshi: „Burnt Sugar“. Hamish Hamilton, London 2020, 240 Seiten, 14,99 Pfund

So messy die Geschichte zwischen Mutter und Tocher ist, so nüchtern ist Antaras Blick auf die Welt und ihre verfallenden Bewohner, auf „the aged Parsi spinster with marshmallow arms“, „stray dogs … with mangled paws and chewed ears“ und auf ihren eigenen Körper, „resembling an overripe pear“.

Scharfzüngige Gedanken

Die Erzählerin hält die Welt mit ihrer Schonungslosigkeit auf Distanz. Als Mittdreißigigjährige verbringt sie ihre Zeit damit, jahrelange dasselbe Foto zu kopieren und ihre scharfzüngigen Gedanken für sich zu behalten – „for fear of sounding careless with words“.

Manchmal zeitigt dieser innere Monolog einen sehr komischen Effekt, etwa wenn sie die Begegnung eines befreundeten Paares mit ihrer Mutter beschreibt: „A bisexual, a power-monger and a demented lady walk into a bar.“ Doch farblos bleibt etwa die Beziehung zwischen Antara und ihrem namenlosen Mann; die Schilderungen ihres Middle-Class-Lebens zwischen dem seit Kolonialzeiten bestehendem Social Club, Kokspartys und den nonchalant mitgemeinten Hausangestellten gehören zu den schwächeren Passagen des Buchs.

Männer sind in „Burnt Sugar“ ohnehin bloße Randfiguren, im Zentrum steht die ambivalente Beziehung zwischen Mutter und Tochter.

Mütter sind seltsam

Die steht unter dauerhafter emotionaler Spannung – und droht ständig zu explodieren. „Unsere Mütter“, schrieb die Schriftstellerin Marguerite Duras einmal, „werden immer die seltsamsten, verrücktesten Menschen bleiben, die wir jemals getroffen haben.“

„Burnt Sugar“ ist über die konkret abgebildete toxischen Beziehung hinaus eine Studie dieser universalen Sprengkraft von Mutter-Kind-Beziehungen. Jeder Konflikt, jedes Problem mit der eigenen Mutter bedrohe das Ich mit der Selbstauflösung, beschreibt das Doshi. In einem Essay für Harpers Bazaar India zweifelte sie daran, jemals Kinder haben zu wollen. Kritiker*innen stellten das Buch bereits in eine Reihe mit großen Mutterschaftsversuchen wie Sheila Hetis „Motherhood“ und Rachel Cusks „Aftermath“.

Tara ist objektiv betrachtet eine schlechte Mutter, sie schlägt ihr Kind, erniedrigt sie und lässt sie physisch und psychisch verkümmern. Antara ihrerseits hintergeht ihre Mutter über Jahre. Als sich deren Zustand vorübergehend verbessert, sabotiert sie gar den gesundheitlichen Fortschritt. Doch da ist auch die Sorgearbeit, die Antara leistet, und die Erinnerung an lichtere Momente, die vertraute Präsenz des mütterlichen Körpers, die Gerichte, die Tara meisterhaft zubereitete.

Erinnerung ist ein geteiltes Projekt

„Dies ist eine Liebesgeschichte und eine Geschichte des Betrugs“, heißt es in der Begründung der Booker-Preis-Jury, auf dessen Shortlist das Buch steht. „Aber nicht zwischen Liebenden – zwischen Mutter und Tochter.“ Die beiden Frauen können nicht voneinander lassen, auch wenn die mentalen Irrwege der Mutter den töchterlichen Zugriff auf die Realität zunehmend gefährden.

Erinnerung, demonstriert Doshi eindrucksvoll, ist immer ein geteiltes Projekt. Da, wo Antara vermutet, dass ihre Mutter „is leaking, all over and from everywhere“, wirkt ihre Umnachtung ansteckend. „Burnt Sugar“ ist auch ein Roman noir, in dem zwei zynische Antiheldinnen die Leserin auf ein Verwirrspiel zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit mitnehmen. Spielt Tara ihre Erkrankung nur vor? Hat Antara tatsächlich eine innovative Heilung für Alzheimer entdeckt? Können wir der Perspektive der Tochter wirklich vertrauen?

Am Ende schließt sich der Kreis. Antara wird selbst Mutter und fantasiert, postnatal depressiv, zwischen knallharten Beobachtungen ihrer dysfunktionalen Patchworkfamilie darüber, ihre Tochter aus dem Fenster zu stürzen. Tara und Antara stehen auf derselben Seite, als Frauen, deren Wert in ihrer unweigerlich verfallenden jugendlichen Schönheit liegt, als Mütter, die liebende Eltern, Ehefrauen und Gastgeberinnen sein sollten und doch nicht können. Und als verlassene Geliebte desselben Mannes.

Acht Entwürfe in sieben Jahren

Noch schmerzhafter, als eine schlechte Mutter zu haben, ist die Angst davor, so zu werden wie sie. Dass sich die Beziehung der beiden Frauen auf diese Weise, wenn nicht in Wohlgefallen, so doch in analoges Leid auflöst, ist etwas schade.

Schuld an dieser gleichnishaften Abgeschlossenheit könnte der Entstehungsprozess des Buchs sein: Nachdem Doshi 2013 für ihr Manuskript den britischen Tibor-Jones-Preis erhielt, ordnete ihre Agentur umfassende Überarbeitungen an. Das Ergebnis: acht unterschiedliche Entwürfe in sieben Jahren. „It was a big mess“, so Doshi.

Ein Glück, dass auch die etwas zu geglättete Endversion so viel Scheiße zu bieten hat – buchstäblich. „Burnt Sugar“ ist voll von Körperfunktionen, von Durchfall und Erschöpfung, von Schweißausbrüchen und tropfenden Brüsten. „I always smell like milk now“, erklärt Antara gegen Ende der Erzählung. „Like milk, shit and vomit.“ Mutter und Tochter sind nun beide „leaking out“. Doshi trägt den schlampigen Körper, die unkontrollierbare Physis in die Literatur.

Ob die in Dubai lebende Autorin dafür mit dem Booker-Preis geehrt wird, entscheidet sich am 19. November.

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