Autos nur im Fernsehen: Die Eisdiele kommt per Schiff
Die touristische Idylle trügt: Die Bewohner der Inseln im argentinischen Paraná-Delta leben im Kampf gegen die Natur – nicht im Einklang mit ihr.
Das Wasser steht hoch an diesem Morgen. Die braune Brühe des Paraná schwappt auf den gepflegten Rasen der Vorgärten. Prachtvolle Rosen- und Jasminsträucher, Hortensienbüsche und hohe Palmen ragen aus den Fluten. Eine Gruppe Jungen in Badehosen wartet unter Lachen und Johlen auf die hohen Wellen, die das Linienschiff „Interisleña“ im Vorbeifahren erzeugt. Sich an der Uferböschung vom Wasser umspülen zu lassen, ist eines der größten Vergnügen für die jungen Bewohner der Inselwelt im Mündungsdelta des Paraná, eine Stunde Zugfahrt nördlich von Buenos Aires.
Anreise von Buenos Aires: Mit dem Zug in etwa einer Stunde vom zentralen Bahnhof Retiro bis zum Bahnhof Tigre. Von dort in wenigen Gehminuten zur Estación Fluvial. Weiter mit Linienschiffen oder mit dem Bootstaxi.
Unterkunft: An einem Infostand der Touristikorganisation Todo Delta am Hafen erhält man preiswerte Karten vom Delta und Informationen über Unterkünfte und Schiffsverbindungen. Wer sich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang einlassen will, kann ohne Reservierung mit einem Linienboot losfahren und dort nach Unterkunft fragen, wo es ihm gefällt. Nicht zu empfehlen am Wochenende.
Verschiedene Touristikunternehmen bieten geführte Wanderungen und Kanutouren mit ausgebildeten Führern an, die die Flora und Fauna des Delta erklären.
Wer nur einen Kurztrip ins Delta plant, kann sich zu einem der vielen Tagesressorts bringen lassen. Dort gibt es Badestrände, Sonnenstühle, Restaurants und Hängematten, um sich für einen Tag von Buenos Aires zu erholen.
Rucksackreisende, die schon länger unterwegs sind und die Heimat vermissen, finden mitten im Delta das "Alpenhaus". Hier kann man bei Bier, Leberwurstbrot und Apfelstrudel auftanken. Das Ferienressort im österreichischen Landhausstil verfügt über Whirlpool und Sauna, vor den Fenstern hängen Geranientöpfe, an den Wänden Bilder von Almwiesen. Internet: www.tigre.gov.ar
Das Delta ist eine Welt aus verzweigten Flüsschen, breiten Kanälen und von subtropischem Wald überwucherten Inseln. Eine Welt, die erst vor zehn Jahren an das Stromnetz angeschlossen wurde und in der das Telefon in manchen Gegenden immer noch keinen Einzug gehalten hat. Autos gibt es hier nur im Fernsehen, die einzigen Verkehrsadern sind die Wasserstraßen. Die heute etwa 6.000 Inselbewohner leben in Pfahlbauten, denn Überschwemmungen gehören trotz Uferbefestigungen zum Alltag. Wer Land hat, baut Hütten und vermietet sie an Touristen.
So auch Rosa und ihr Mann Tomás. Seit 43 Jahren lebt die italienische Einwanderin mit ihrem argentinischen Ehemann am Ufer des Rama Negra, einem kleinen Seitenarm in der verzweigten Flusswelt. Auf ihrem mehrere Hektar großen Grundstück stehen zwischen Orangenbäumen und von Blumen umwucherten Gemüsegärten neun Hütten für Gäste. Die aus Holz gezimmerten Häuschen stehen auf Zementsäulen, Fenster und Türen sind sorgfältig mit Moskitonetzen ausgekleidet. Tomás, der nebenbei eine Firma zur Uferbefestigung betreibt, hat sie alle selbst gebaut. „Das Geschäft läuft gut“, sagt Rosa. Das Flussdelta ist einer der wenigen Zufluchtsorte für gestresste Großstadtbewohner aus Buenos Aires, die hier am Wochenende oder in den Ferien Erholung suchen.
Schon die Anfahrt ist ein Erlebnis. Von der „Estación fluvial“, dem „Wasser-Bahnhof“ im nördlich an Buenos Aires grenzenden Landkreis Tigre, nimmt man eines der Linienschiffe, die täglich Besucher und Einwohner durch das Delta transportieren. Das Dach ist vollgeladen mit Taschen, Wasserkanistern und Kisten voller Obst und Gemüse. Das Innere des Schiffes ist mit einer dunklen Holzvertäfelung ausgekleidet. Neben dem Steuerrad hat sich der Steuermann ein kleines Gasstövchen eingebaut, um das Wasser für den obligatorischen Mate-Tee heiß zu machen.
Den schlürft er dann durch einen Strohhalm aus Metall, während er durch die Kanäle steuert und zum Einladen oder Absetzen der Fahrgäste an den Stegen anlegt, die Namen tragen wie Utopia, Edén oder Suerte Loca, das „verrückte Glück“. An einer „Tankstelle“ warten mehrere Boote am Steg vertäut auf den Schiffsdiesel. Ein Jugendlicher Inselbewohner mit schneidiger Sonnenbrille rast in seinem Sportflitzer vorbei, den Ellbogen lässig über den Schiffsrand gelegt. Eine aufgedunsene Tierleiche treibt vorbei. Man erkennt nicht, ob es ein Hund oder ein Schwein ist.
Dann legt die „Interisleña“ am Steg des „Rama Negra“ an. Bei laufendem Motor klauben Aussteigende ihre Taschen vom Dach des Schiffes und springen ab, während der Steuermann schon wieder ablegt. Zu Fuß geht es den provisorisch befestigten Uferweg entlang, der sich durch Bambuswäldchen und die Vorgärten der Anwohner schlängelt - das Wegerecht im Delta schreibt vor, dass jeder Besitzer eines Ufergrundstücks freien Durchgang gewähren muss. Immer wieder watet man bis zu den Knien durch das Wasser.
Als Rosa vor über 40 Jahren zu ihrem Mann auf die Insel zog, gab es noch so gut wie keinen Tourismus im Delta. Wie die meisten Inselbewohner lebten die beiden vom Obst- und Holzanbau. „Durch den Verfall der Obstpreise wurde das Geschäft immer unrentabler“, erinnert sie sich. Viele gaben auf und verließen die Inselwelt. Geblieben ist der „Mercado de Frutas“ in der Nähe des Hafens, wo man bis heute von der hausgemachten Marmelade bis zum kunstvoll geflochtenen Korbstuhl alle typischen Produkte der Region kaufen kann. Ihr Einkommen bestreiten die Bewohner des Delta heute jedoch zum Großteil direkt oder indirekt durch den Tourismus. Wer keine Hütten vermietet, repariert Stege, pflegt Gärten - oder beliefert Inselbewohner und Gäste mit dem Lebensnotwendigen.
Eine ganze Flotte an schwimmenden Läden versorgt Touristen und Einwohner, die kein eigenes Boot besitzen oder sich den langen Weg zum Festland sparen wollen. Es gibt ein Lebensmittelschiff, ein Bäckerei-Schiff und eine schwimmende Eisdiele. Alle kommen zu mehr oder weniger festen Tageszeiten und haben ihre eigenen Signalmelodien. Wer etwas braucht, schlendert zum Steg und winkt dem Steuermann zu.
Mit einem melodischen Hupen kündigt sich das Lebensmittelschiff an. Es erinnert an einen voll gestopften Tante-Emma-Laden, frisches Obst und Gemüse bekommt man genauso wie kalte Getränke oder Haushaltswaren. Rosas 85-jährige Nachbarin watet in Gummistiefeln auf ihren überschwemmten Steg und kauft Waschpulver und zwei Fünf-Liter-Flaschen billigen Rotwein, die hier im Volksmund „Dama Juana“ genannt werden - „Frau Juana“. Nachdem sie die Einkäufe im Trockenen verstaut hat, nimmt sie einen Stock und löst hängen gebliebenes Treibgut von den Holzplanken.
„Wir leben hier im Kampf gegen die Natur, nicht im Einklang mit ihr“, sagt Carlos, der ein paar Flüsse weiter ebenfalls mehrere Hütten vermietet. Auch er hatte früher eine einträgliche Obstplantage. „Dann kam die Flut“, sagt er und zeigt auf die schwarze Linie, die der Wasserstand von der großen Überschwemmung 1983 auf der Tapete zurückgelassen hat. Schuld war ein unglücklicher Zufall: Das Klimaphänomen El Niño hatte den Paraná durch die starken Regenfälle enorm anschwellen lassen, gleichzeitig drückte ein starker Wind von Südosten her auf den Río de la Plata und hinderte die Wassermassen am Abfließen. Mehrere Monate hieß es „Land unter“. „Als das Wasser wieder abgeflossen war, waren die Wurzeln vieler Obstbäume verfault“, bedauert Carlos. Der ehemals blühende Obstgarten ist heute zugewuchert.
Auf der Rückfahrt hält das Schiff an einem der vielen Freizeitressorts, wo für Tagestouristen Restaurants, Badestellen und Hängematten bereitstehen. Während die Leute an Bord klettern, rudert ein alter Mann in einem Holzkanu an das Boot heran und preist mit brüchiger Stimme den Duft der Jasmin-Sträußchen an, die er für umgerechnet fünfzig Cent anbietet. Als das Linienschiff davonzieht, schaukelt sein Kanu auf den hohen Wellen wie ein Papierschiff. Dann verschwindet er gemächlich rudernd in einem der nahe gelegenen Seitenflüsse.
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