Autorin Pavón über Argentinien nach dem Crash: "Mein Platz in der Welt"

Ein Gespräch mit der argentinischen Schriftstellerin Cecilia Pavón über den kulturellen Aufbruch nach dem ökonomischen Zusammenbruch und die Digitalisierung des Marktes.

Von rechts nach links: Cecilia Pavón mit Washington Cucurto, einem Nachbarn und dem Buchbinder. Bild: Eva-Christina Meier

taz: Frau Pavón, Sie kommen ursprünglich aus Mendoza und leben heute in Buenos Aires. Was macht den Unterschied zwischen Hauptstadt und Provinz?

Cecilia Pavón: Das kulturelle Leben in einer Stadt wie Mendoza ist beschränkt. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf wenige anerkannte Figuren, die eher Kunsthandwerk als Kunst betreiben. Und es gibt kaum Orte für jüngere Leute, was dazu führt, dass man in Argentinien fast zwangsläufig nach Buenos Aires auswandert, wenn man sich für bildende Kunst, Literatur oder Musik interessiert.

Keine Probleme mit der Größe und der Anonymität?

Cecilia Pavón, geb. 1973 in Mendoza, lebt in Buenos Aires, Autorin, Journalistin und Übersetzerin. Für den argentinischen Verlag Interzona übersetzte sie aus dem Deutschen "Personas en loop. Ensayos sobre cultura pop" (2005) von Diedrich Diederichsen und "La utopía de la copia" (2007) von Mercedes Bunz. Von 1999 bis 2002 betrieb sie zusammen mit Fernanda Laguna die Galerie Belleza y Felicidad. Zuletzt erschienen: "Fette Katze Tonträger" (Berlin, SuKuLTuR, 2005), "Caramelos de anís" (Buenos Aires, 2004), "Pink Punk" (Buenos Aires, 2003), "Existe el amor a los animales" (Buenos Aires, 2001). 2004 war sie zusammen mit Washington Cucurto eingeladen zu der Veranstaltung "Live and let die" in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

Nein. Als ich 1991 in Buenos Aires eintraf, überraschte mich zunächst, mit welcher Selbstverständlichkeit wildfremde Menschen miteinander umgingen. In der Provinz hat man mit Leuten zu tun, deren Background man kennt. Der Sohn von …, der Bruder von … In Buenos Aires habe ich das Gefühl, immer wieder neue Leute kennen lernen zu können, die sozialen Kreise zu wechseln und ein komplett neues Leben beginnen zu können. Du hast die Gewissheit, dass sich eine Tür öffnen und eine unbekannte Szene auftauchen wird.

Und was schätzen Sie an Buenos Aires weniger?

Die fatalistische Kultur des Tangos. Viele Einwohner haben das Gefühl, dass es unmöglich sei, etwas zu ändern. Dass die Dinge sind, wie sie eben sind. Der Mangel an Stadtplanung ist ebenfalls ein schwieriges Thema. In gewissen Momenten hat das Chaos in Buenos Aires seinen Charme, aber es kann auch erdrückend wirken.

Sie schreiben vorwiegend Gedichte, warum keine Prosa?

Manchmal versuche ich es mit Prosa, aber das sind immer sehr kurze Texte, und sie gelingen mir nicht mit dieser Selbstverständlichkeit.

Wie würden Sie den Zustand der argentinischen Lesekultur beschreiben?

Das Auffälligste ist, dass Literatur keinen zentralen Ort mehr im Leben der Leute aus dem Mittelstand einnimmt. In den Siebzigerjahren, als meine Eltern Wirtschaft studierten, lasen auch sie die Autoren des "Boom" wie etwa Cortázar. Heute ist die Literatur der Avantgarde nicht mehr Bestandteil des Lebens "normaler Leute". Aber das ist sicherlich ein weltweites Phänomen.

Auf welche südamerikanische "Avantgarde" beziehen Sie sich dabei heute?

Brasilianische Lyrik im Allgemeinen. Persönlich schätze ich von den argentinischen Gegenwartsautoren besonders César Aira.

Sie waren auch schon des Öfteren in Europa, länger in Berlin. Wie unterscheidet sich Buenos Aires von Berlin?

Das Chaos oder das Improvisierte aus Südamerika fehlten mir. Auch der sehr formale Umgang untereinander erstaunte mich. Berlin erschien mir wie der Ort aus einer surrealen Erzählung. Viele arbeiten mit Leidenschaft und ohne institutionelle Unterstützung an ihren Projekten.

Ist das in Argentinien anders?

Die vom Staat unabhängige Szene ist sehr klein. Manches ist dennoch ähnlich wie in Berlin: das rege kulturelle Leben, die vielen "Kreativen". Doch Buenos Aires ist auch ein Ort der Dritten Welt, und in Argentinien haben die Leute - auch aus der Kulturszene - mehrheitlich andere Sorgen, als cool rüberzukommen.

In Buenos Aires haben Sie eine Galerie, eine Art Club mitbetrieben. Was war das für ein Laden?

"Belleza y Felicidad" ("Schönheit und Glück") im Viertel Abasto war ein Ausstellungsraum, bei dem der kommerzielle Aspekt der Werke nicht entscheidend war. Nach neun Jahren schloss dieser Treffpunkt jetzt. Es wurden Ausstellungen gezeigt, aber auch Bücher und Malereibedarf verkauft. Und es gab Rockkonzerte oder Vorträge über Soziologie.

Wenn Sie Sich an die große Krise Argentiniens, den Crash der Ökonomie 2001/2002 erinnern: Wie war das? Was für ein Moment war das für die Kultur?

Zunächst war es sehr hart. Aber viele fühlten nach Jahren, in denen sie sich nicht mit Politik beschäftigt hatten, dass sich auch etwas öffnete, und sie engagierten sich. Das war in der Krise für viele auch eine gute Erfahrung. Aber nach einigen Zeit waren gerade viele Künstler von der sich immer stärker formalisierenden "Basispolitik" enttäuscht. Die Vorstellungen der "Politischen" standen konträr zu einem auch ästhetischen Verständnis von Raum und Freiheit, konträr zur Idee symbolischer Politik und spielerischer Intervention. Rückblickend sehe ich heute, dass in einem Land wie Argentinien geboren zu sein bedeutet, in permanenter Krise gelebt zu haben. Als die Diktatur 1976 die Macht ergriff, war ich drei Jahre alt. Auch mit dem Übergang zur Demokratie 1983 blieb die Krise in Argentinien eine Konstante.

Wie hat diese konstante Krisenerfahrung Ihr Leben beeinflusst?

Die letzten Jahre der Neunziger waren am schlimmsten. Sie waren geprägt von großem Pessimismus und ökonomischer Rezession. Diese Phase fiel mit dem Moment zusammen, in dem ich begann, in professioneller Hinsicht meinen Platz in der Welt zu suchen. Das vorherrschende Gefühl war: Die Möglichkeiten, die es gibt, sind wenige, und für dich sind sie sicher nicht. Das ist hart für einen jungen Menschen.

Woran lässt sich der Zusammenbruch des alten argentinischen Systems mit seinem einst großen Mittelstand sinnbildlich beschreiben?

Auf einmal füllte sich die Stadt mit Armen, die bettelten oder den Müll durchwühlten. Die vielen Cartoneros, Müllsammler auf der Suche nach Altpapier, das war sehr eindrücklich. Dabei gab es schon vor 2001 viele Menschen, die auf der Straße lebten und bettelten. Sie wurden in der Krise aber sichtbarer, da sich die öffentliche Aufmerksamkeit ihnen zuwandte.

Und heute: Die organisierten Arbeitslosen, die Piqueteros, sind wieder verschwunden und die Wirtschaft boomt?

Nein, die Piqueteros sind nicht verschwunden. Vielleicht sind sie als Thema in den Medien verschwunden, aber es gibt viele Organisationen, die weitermachen. Die Wirtschaft wächst, aber für die große Mehrheit bleiben die Bedingungen der Ungerechtigkeit die gleichen. Tatsache ist, dass das Gefälle zwischen Arm und Reich größer ist als in den Neunzigerjahren.

Der Unterschied ist, dass es mehr Arbeit gibt, aber das Mindesteinkommen deckt nicht die Lebenshaltungskosten, und die Inflation führt dazu, dass die Kaufkraft der Leute sehr gering ist. Es ist merkwürdig, dass die Leute das Gefühl haben, die Dinge besserten sich. Zudem gibt es ein gravierendes Energieproblem, das sich erst langsam abzeichnet.

Was ist die jetzige Präsidentin, Frau Kirchner, für ein Typ? Ist es nicht merkwürdig, dass erst der Mann und dann die Ehefrau regiert?

Ich kann mir vorstellen, dass man sich als Ausländer darüber wundert. In Argentinien scheint es jedoch eher normal. Es gibt ja auch diese ewige Sehnsucht, die Argentinier für Evita empfinden. Das findet auch niemand seltsam.

Haben die Ereignisse der Krise, die sozialen Bewegungen, Einfluss auf die Ästhetik, die Themen in der Kunst?

Die Krise beeinflusst alles und natürlich auch die Kunst. Improvisation, Notstand, Fatalismus und Scheitern - alles findest du auch in der Kunst. Ich würde behaupten, die Neunzigerjahre waren sehr durch eine Ästhetik der Armut, des Expliziten und der Prekarität geprägt. Zum Beispiel veröffentlichte der Verlag "Belleza y Felicidad" seit 1998 kopierte und geheftete kleine Bücher - für junge Poeten war es die einzige ökonomische Möglichkeit, ihre Texte bekannt zu machen. Oder "Eloisa Cartonera", die ihre Buchdeckel aus Karton herstellten, den sie den Cartoneros abkauften.

Welche Bedeutung hat ein Verlag wie Eloisa Cartonera für die jüngere Szene?

Ich würde sagen, dass sich in den letzten drei Jahren die Szene vor allem auf digitale Medien und auf die Schaffung von Zusammenhängen im Internet konzentriert hat. Es gibt das Gefühl, dass es keinen Sinn mehr macht, Bücher zu veröffentlichen. Dass es andere Wege für die Poesie gibt und dass die Literatur in der Immaterialität des Internets an Raum gewinnt.

Wie publizieren Sie Ihre Literatur?

Vor vier Jahren habe ich mein letztes gedrucktes Buch veröffentlicht. Es ist merkwürdig, was in den letzten Jahren passiert ist. Schriftsteller veröffentlichen fast keine Bücher mehr, aber fast alle haben Blogs. Trotzdem gibt es unendlich viele Poesielesungen, Treffen und Festivals, auch internationale, vor allem in Lateinamerika.

Wie ist das Verhältnis Argentiniens zu Europa, nimmt man wahr, was kulturell auf der anderen Seite des Atlantiks passiert?

Seit der Epoche des Kolonialismus war die Beziehung zu Europa sehr wichtig. Aber vielleicht wurde sie in den letzten Jahrzehnten zu keiner Notwendigkeit mehr im Sinne einer Legitimation durch Europa. Im Bereich der Dichtung ist die Beziehung zu anderen lateinamerikanischen Ländern sehr ausgeprägt.

Nach dem Verfall des argentinischen Peso wurde Buenos Aires zu einem außerordentlich beliebten Reiseziel - besonders bei europäischen und US-amerikanische Kulturschaffenden. Wie wirkt sich das aus?

So wie ich es wahrnehme, wurde die Stadt und die Kultur durch das Kommen und Gehen der Leute abwechslungsreicher und intensiver. In den Neunzigerjahren träumte hier die ganze Welt davon, nach Europa oder New York auszuwandern, weil man annahm, dass dort die interessanteren Dinge passieren. Heute ist diese Vorstellung unter den Künstlern nicht mehr sehr verbreitet. Es gibt nun auch in Argentinien überall Internet. Und die Leute haben nicht mehr so das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn sie nicht an diesem oder jenem Ort sind. INTERVIEW ANDREAS FANIZADEH UND EVA-CHRISTINA MEIER

Dieses Gespräch ist ein gekürzter Vorabdruck aus der Literaturzeitschrift Wespennest. Es erscheint dieser Tage im Buchhandel mit dem Titel "Argentinien nach der Krise" (Hrsg. Eva-Christina Meier und Andreas Fanizadeh) und enthält Beiträge von César Aira, Sergio Bizzio, Washington Cucurto, Maristella Svampa, Dani Umpi, Raúl Escari u. a. www.wespennest.at

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.