Authentizität, Aufrichtigkeit etc.: Ihr versteht uns nicht
■ Bitterer Streit um Filme aus Sarajevo
Das Publikum zu laden, um ihm anschließend den entblößten Hintern zu zeigen, ist eine seit den frühen Tagen der Avantgarde eingeschliffene Umgangsform. Ein Vergnügen, das vom Einverständnis aller Beteiligten lebt. Ihre Harmlosigkeit verliert diese Art von Diskussionsverweigerung allerdings in dem Augenblick, wo es nicht um künstlerische Authentizität geht, sondern um die Authentizität menschlichen Leidens.
Die Filmemacher der Gruppe „SAGA“ aus Sarajevo, die letzte Woche nach Frankfurt in Berlin ihre Arbeiten präsentierten, hatten für's Publikum nur diese eine Botschaft parat: Niemand versteht uns, und niemand will uns verstehen!
Der führende Kopf der Gruppe, Ademir Kenović, drückte das so aus: „Die Probleme der Menschen außerhalb Sarajevos sind psychologischer Natur. Die Probleme der Menschen in Sarajevo sind existentieller Natur. Es ist nicht wichtig, ob wir mit unseren Filmen etwas sagen wollen. Wichtig ist, daß wir uns das Gefühl dafür erhalten, was sich gegenwärtig in Sarajevo abspielt. Ich möchte nicht unhöflich wirken, aber alle diese Geschichten, die über uns verbreitet weren, verstehen wir nicht. Sie glauben es, wenn die großen Medien Ihnen erzählen, daß es im ehemaligen Jugoslawien Stammeskriege gibt. Wir sind nicht in einen Bürgerkrieg verwickelt, wir leben in Sarajevo in einem Konzentrationslager, auf das man Bomben wirft. Sie glauben es, wenn die Medien von einem religiös motivierten Konflikt sprechen. Wir aber sind umzingelt von einer Kraft, die dreimal so groß ist wie die um Stalingrad.“
Die Klage, nicht verstanden zu werden, ist das Stereotyp des Selbstmitleids, die Eingangspforte zu jeder Form von nationaler Martyrologie. Und die Täter, die serbischen Machthaber, teilen sie mit den Opfern, den Bürgern Bosniens. „Wir“, die Westler, verstehen den Konflikt nicht in seinen rational nachvollziehbaren Ursachen. Wir sind Opfer der Manipulation. Nur eins will uns Kenović zubilligen – den emotionalen Nachvollzug, gestützt durch Wagners Walkürenritt, der einem der Filme unterlegt ist. Kenović vergleicht die Lage Sarajevos mit einer überfallenen Bank. Wer für Intervention plädiert – und dafür gibt es gute Gründe –, muß mehr auffahren als diese „Arturo Ui“- Geschichte. Aber Ademir Kenović wollte nicht argumentieren, sondern klagen: Der Westen hat uns verraten und damit an sich selbst Verrat begangen.
Speziell für deutsche Ohren ist in Kenovićs Rede der häufige Verweis auf das „Konzentrationslager Sarajevo“ bestimmt. Daß es in Bosnien tatsächlich von den Serben unterhaltene Folter- und Vernichtungslager gab (und wahrscheinlich noch gibt), wird durch diese metaphorische Verwendung des Schreckensbegriffs verharmlost. Immerhin haben die Eingeschlossenen von Sarajevo noch Waffen, um sich, wenngleich ungenügend, ihrer Haut zu wehren. Aber der Hinweis auf die Konzentrationslager muß auch dazu herhalten, Nachfragen des Publikums, die Qualität der gezeigten Filme betreffend, abzuwehren.
Und als ob in der gepeinigten Stadt nicht an jeder Ecke ein Fernsehteam unterwegs wäre, unterstreicht Kenović die „historische Mission“ seiner Filmarbeit auch noch mit dem Hinweis auf das Warschauer Ghetto: „Ich glaube, wenn es dort ein Filmteam gegeben hätte, dem es gelungen wäre, seine Arbeiten ins Ausland zu bringen, hätte die Geschichte vielleicht einen anderen Verlauf genommen.“
Sicher haben die Reportagen des Fernsehens aus Sarajevo oft die Tendenz, den Szenarien des allgegenwärtigen Horrors jede politische Klarheit zu opfern. Aber die Reporter lassen die Leute wenigstens reden – über sich, über ihre Stadt, über eine mögliche oder unmögliche Zukunft. In den Filmen der SAGA-Gruppe tauchen die Menschen nur als Objekt der Beobachtung auf – und als Material für die Konstruktion skurriler Zwischenfälle. Der Verdacht drängt sich auf, daß das Pathos des Dokumentaristen, der der Nachwelt überliefern will, „wie es gewesen ist“, der sich um die „Rohheit“ seiner Produkte nicht schert, so ehrlich wieder auch nicht gemeint war. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen