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AusstellungDer Mythos vom Wachstum

Das Hamburger Bucerius Kunst Forum zeigt Fotografien von New York aus der Zeit von 1890 bis 1950.

Andreas Feininger (1906-1999): 42nd Street View, 1942, Münchner Stadtmuseum. Bild: Zeppelin Museum

HAMBURG taz | Da gehst du, sagen wir, an einem unauffälligen Dienstagmorgen durch New York. Hochhäuser allenthalben, Drillinge kreischen, Mittfünfzigerinnen palavern, zwei Omas verstellen dir den Blick aufs Schaufenster. New York, wie es leibt und lebt, um 1900. Alles voll und eng.

Und dann bemerkst du, dass du gar nicht in New York bist, sondern im Hamburger Bucerius Kunst Forum, und es ist 2012. Da hängt zurzeit eine Ausstellung mit Fotos aus New York, und sie sind so gehängt, dass man sich fühlen soll wie zwischen Wolkenkratzern: wenig Licht, eng gestellte Wände, dazu jede Menge Menschen – die Besucher. Das ist zwar eine nette Inszenierungsidee, praktikabel ist sie aber nicht. Denn da es sich um teils kleinformatige Fotos handelt, wird man etliche nicht sehen – falls man nicht warten will.

„New York Photography 1890 bis 1950“ heißt die Ausstellung, die 60 Jahre New Yorker Fotografie abbildet. Und zunächst ist es eine Schau reinen Pomps: Mit renommierten Namen wie Alfred Stieglitz, Helen Levitt, Edward Steichen und Man Ray trumpft sie auf. Man hat Ikonen versammelt, dabei aber vergessen, einen roten Faden hineinzuweben.

Da wären nämlich interessante Subtexte zu vermerken, die man nun eben selbst finden muss. Der erste wäre: die Emanzipation des Fotos von der Malerei. Das klingt plakativ, war Ende des 19. Jahrhunderts, als Alfred Stieglitz seine Zeitschrift „Camera Work“ etablierte, aber noch ein Problem: das Nicht-Ernstgenommenwerden als Kunstgattung. „Piktorialismus“ nannte sich die von Stieglitz begründete Richtung; die ästhetische Abbildung der Dinge war ihr Ziel. Und so verhuscht, wie die Stellung der Fotografie, wirken auch diese Fotos: warm in Kontrasten und Konturen – als hätten sie sich ganz konkret an der Malerei orientiert: Stieglitz’ „Winter on Fifth Avenue“ an Impressionisten wie Monet, Gertrude Käsebiers „The Bride“ an Renaissance- oder Anselm-Feuerbach-Porträts, Imogen Cunninghams „The Plea“ an den Präraffaeliten. Dem Vorwurf, keine eigenständige Gattung zu sein, suchten sie also dadurch zu entgehen, dass sie ihre Fotos Gemälden ähnlich machten – eine Strategie, die im Nachhinein recht absurd erscheint.

Da waren ihre Kollegen, die Dokumentarfotografen, schon deutlicher: Sie schauen genau hin und legten Missstände offen. Und waren in Thematik und Methode weniger elitär: Die armen, aus Russland und Europa einwandernden Juden der 30er und 40er Jahre waren jetzt zu sehen, hoffnungsvoll dreinblickende Männer in „Climbing into America“ von Lewis Hine zum Beispiel.

Merkwürdigerweise hat aber ausgerechnet Hine irgendwann den Fokus verlagert und fortan „Helden der Arbeit“ fotografiert, sprich: nicht mehr das Elend der Slums, sondern Muskelprotze in der Fabrik, die nicht einmal schwitzten – wie den „Steamfitter“ zum Beispiel, der sich malerisch in das soeben montierte Rad einpasst.

Das Foto entstand zwar in den 20er Jahren. Trotzdem nimmt es in seiner Idealisierung den „Helden der Arbeit“ sowohl des Nationalsozialismus als auch des Sozialistischen Realismus frappierend exakt vorweg.

Später ging der Blick vom Detail aufs Ganze: zur monumentalen städtischen Kulisse. Alfred Stieglitz fotografierte New Yorker Häuser, als wären sie Baukästen, aber auch: als wären sie das triumphale altbabylonische Ischtar-Tor oder die Cheops-Pyramide. Zudem liest man diese Fotos nach dem 11. September mit der Beklemmung dessen, der das böse Ende der Geschichte kennt.

Abgesehen davon sind diese Stieglitz-Fotos aus den 1930er Jahren eigentlich schon der Beginn der Abstraktion, auch im übertragenen Sinne. Denn heimelige Behausungen für Menschen sind dies nicht, sondern stadtplanerische Abstrakta.

Auf diese New Yorker Skyline der 1930er und 1940er Jahre verwenden die Ausstellungsmacher viel Platz, als wollten sie das vergangene New York, Sinnbild ewigen Wachstums, ein letztes Mal zelebrieren. Und zugleich eine kontrastreiche Stadt, die schon damals nur mit Mühe erträglich war – auch psychisch. Der Ausweg: Die Flucht ins Surreale. Ins Ineinander-Montieren von Schaufenstern und Passanten, die sich darin spiegeln. Letztlich: in die Vermengung der Realitätsebenen. Die Umkehr von Publikum und Bühne; Fotografen wie Weegee (eigentlich Arthur Fellig) haben das Publikum in Kino und Theater fotografiert. Der psychologische Trick dabei: Wenn ich das Publikum sehe, bin ich folglich auf der Bühne, also Akteur und nicht Opfer in diesem Tumult.

Ein tröstlicher Ansatz, der fast vergessen lässt, dass all diese munteren Fotos fröhlicher Massen etwa auf Coney Island um 1940 entstanden, als in Europa der Holocaust wütete und ebensolche Massen vernichtete.

Doch ganz ausgeblendet wurde Europa nicht. Dafür stammten zu viele Fotografen von dort, waren vor der Tötungsmaschinerie der Nazis geflohen. Die Österreicherin Lisette Model zum Beispiel: Sie hat die Vergessenen, Bettlerinnen in Manhattan fotografiert, die mit arthritischen Händen um Almosen bitten. Oder Jerry Cooke, der als Juri Kutschuk in der Ukraine geboren wurde. Seine Bilder erzählen sehr deutlich vom Holocaust. 1946 – da waren die Fotos des befreiten KZ Bergen-Belsen schon bekannt – hat er New Yorker Psychiatrie-Patienten fotografiert. Die Ikonografie dieser Bilder suggeriert KZ-Zusammenhänge: Der scharf konturierte Schlafende liegt zwischen etlichen Pritschen und wirkt wie tot. Und der Mann dort vor der Wand: Trägt er wirklich zufällig ein Hemd, dessen Streifen an KZ-Kleidung erinnern?

Und selbst wenn man es nicht so deutet: Die psychiatrische Anstalt als Metapher der Verzweiflung über das Europa, das der Fotograf verlassen hat: Es ist ein plausibler, schwer zu widerlegender Subtext, der in den Fotos Clemens Kalischers seine Antwort findet. 1948 sind sie entstandenen, und sie zeigen Menschen, die mehr oder weniger verstört hinter einem Absperrband ihre Verwandten, die „Displaced Persons“, erwarten. Dieses Foto, das europäische und amerikanische Geschichte zusammenbindet und verdichtet, wäre ein würdiger Schlusspunkt der Ausstellung gewesen.

Aber die Schau geht weiter, bietet die bewegungsfotografischen Experimente eines Andres Feininger an und die abstrakten Experimente Man Rays. Sie erbringt so den Beweis, dass sich Fotografie und Kunst in den 50er Jahren endlich auf Augenhöhe begegneten, dass sie einander achteten und inspirierten. Dies noch zu sagen, mag den Ausstellungsmachern wichtig gewesen sein, um den Bogen zu schließen. Nötig gewesen wäre es aber nicht.

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