: Ausritt ins Niemandsland
betr.: „Überraschungen der Natur“ (Die Metapher vom angeblichen ökologischen Gleichgewicht) von Cord Riechelmann, taz Kultur vom 1. 2. 05
Cord Riechelmann verwurstet in seinem Artikel auf ungeheuerliche Weise Fernsehdokumentationen, gut gemeinte populärwissenschaftliche Literatur und fundierte wissenschaftliche Begriffe im Darm einer allgemeinen Feindlichkeit gegenüber den Naturwissenschaften. Dass ein Ökosystem ein Konstrukt und keine „natürliche Funktionseinheit“ ist, ergibt sich schon aus seiner Definition – es ist lediglich als Betrachtungsweise konzipiert. Weil wir noch nicht fähig sind, die Natur als ein einziges komplexes System zu verstehen, müssen wir uns mit Begriffen begnügen, die uns dieses Gesamte vereinfachen.
Gleichgewichte sind kein Konstrukt, da sie nicht von einer mystisch anmutenden „Instanz“ im Inneren eines Ökosystems gesteuert werden. Die Regulation erfolgt (in den einfacheren Fällen) etwa über Räuber-Beute-Beziehungen. Die Vermehrungsrate des Räubers ist von der Zahl der Beutetiere abhängig, und die Vermehrungsrate des Beutetiers ist von der Zahl der Räuber abhängig. Räuber- und Beutebestände regulieren sich also gegenseitig. Eine „zentrale Funktionssteuerung“ ist hierfür gar nicht notwendig .
Im Übrigen ist es der Ökosystemforschung durchaus bekannt, dass Gleichgewichte nur von begrenzter Dauer sind. Man spricht von Sukzession und meint damit, dass sich natürliche Systeme in Form eines Kreislaufs verändern. Beispielsweise wird ein Wald immer wieder durch Stürme, Brände und Absterben alter Bäume aus seinem gegenwärtigen Zustand herausgeworfen und erreicht nach dem Durchlaufen diverser Wuchsformen wieder den vorherigen Zustand. Ökologische Gleichgewichte existieren also durchaus – allerdings räumlich und zeitlich begrenzt.
DIRK SCHLABING, Stuttgart-Vaihingen
Herr Riechelmann versucht, das bisschen Verständnis, das wir von der Natur haben und mit – zugegeben – oft unpräzisen Begriffen umschreiben, in einem heftigen Ausritt ins Niemandsland heilloser Desorientierung vollends kaputt zu treten. Es ist doch völlig wurscht, ob in kalten Regionen ein paar neue Korallen nachwachsen, wenn die Hauptmasse aller Korallen aufgrund der Klimaerwärmung abstirbt. Wir kennen diese verlogene „Argumentation“ aus der Diskussion über die Gletscherschmelze: Irgendwo haben Gegner dieser Theorie einen kleinen Gletscher gefunden, der heute noch anwächst (ebenfalls in einem Beitrag von Arte), und schon wollen sie damit die Klimaveränderung als Hirngespinst diskriminieren. Das stößt einem sauer auf. Es geht nicht um die Präzision von Begriffen, sondern um das Verschwinden tausender Arten. Und das ist es, was beim Ansatz des ökologischen Gleichgewichts beklagt wird.
BERND H. SCHOEPS, Dortmund