Ausländische Straftäter im Jugendknast: Drinnen ist besser als draußen
Ausländische Straftäter, die nicht abgeschoben werden können, erhalten eine Duldung so wie Hassan. Er ist ein vorbildlicher Gefangener - nur die Freiheit kriegt er nicht hin.
Mit 12 Jahren verdiente er mit Drogen 12.000 Mark in einer Nacht. Acht Jahre später steht er kurz davor, deutscher Meister zu werden: als Schlussläufer mit seiner Staffel im Halbmarathon. Noch eine rauchen. Sein Vorläufer hat einen weinenden Clown als Tattoo auf dem Oberarm und bringt eine Minute, vierzig Sekunden Vorsprung mit. Hassan* klatscht ab. Sieben Runden, 4,5 Kilometer bei ziemlicher Hitze liegen ihm. Er beginnt souverän, entlang einer Geraden zwischen Gefängnismauer und Fußballfeld, die JVA Iserlohn sitzt ihm im Nacken. Hinter ihm trabt Olympiasieger Dieter Baumann die gesamte Strecke mit, vor ihm schleppt sich ausgepumpt der Geschäftsleiter der Staatsanwaltschaft Moosbach eine kurze Anhöhe hinauf in Richtung des G-Baus für den geschlossenen Vollzug.
Ein unwirklicher Lauf. Vielleicht ist es pädagogisch, wenn verurteilte Jugendliche um die Wette rennen. Aus ganz Deutschland werden sie in Fußfesseln in das baden-württembergischen Jugendgefängnis in Adelsheim gebracht. Dort trainieren sie mit dem Olympiasieger von 1992 über 5.000 Meter, der Initiator des Projekts ist, und einem All-Star-Team aus Beamten und Bürgermeistern. Zwölf Justizvollzugsanstalten (JVA) sind in Adelsheim dabei, in den beiden Halbfinalen zuvor waren insgesamt 26 Teams vertreten.
Hassan ist wegen einer Straftat verurteilt worden. Damit hat er eigentlich keine Chance, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Eine Ausbildung darf er wegen seiner Straftat ebenfalls nicht beginnen. Abgeschoben kann er auch nicht werden, weil ihn sein Heimatland nicht aufnimmt. Er erhält also eine "Duldung" - mit der er sich nur begrenzt bewegen darf. Nach 18 Monaten Duldung sollte er laut Gesetz eine Aufenthaltserlaubnis bekommen - was wegen der Straftat nicht geht. Irgendwann muss wahrscheinlich das Innenministerium in Hessen über seinen Fall befinden - so lange bleibt ihm nur Nichtstun.
Je fünf Läufer rennen nun auf dem weitläufigen Gelände des Gefängnisses mit Blick auf den Odenwald insgesamt 21,1 Kilometer um den ziemlich inoffiziellen Titel in der Disziplin "Staffel-Halbmarathon im Deutschen Jugendstrafvollzug", zum dritten Mal ausgetragen. Hassans Trainer Dierk Bublitz, zugleich sportlicher Leiter der JVA Rockenberg in Hessen, glaubt an einen pädagogischen Effekt - die Jugendlichen sehen, was man erreichen kann, wenn man ein Ziel vor Augen hat. Es gehe um Motivation, Teamgeist, Teilhabe, Normalität wie draußen.
Doch was heißt "draußen" und "Normalität" für Hassan? Drinnen bekommt er einen Sprachkurs, Sportunterricht, er hat eine Betreuerin und lernt in einer "berufsfördernden Maßnahme" Maler. Draußen ist er allein. Hassan hat keine Staatsbürgerschaft, ist im Knast volljährig geworden. Mit neun Jahren kam er aus Marokko nach Deutschland. Eine Jugend später kennt er Marokko nicht mehr, und Marokko kennt ihn nicht mehr: Die Behörden des Landes haben keine Papiere von ihm. Andernfalls würden ihn die Deutschen wegen seiner Haftstrafe abschieben. Mit 14 hatte er wegen Drogenhandels drei Monate bekommen und in der Bewährungszeit in einer Massenschlägerei "ziemlich betrunken" einen Russen zusammengeschlagen: gefährliche Körperverletzung. Hassan bekam "zwanzigzehn", zwei Jahre und zehn Monate.
Immerhin geht es bald bergab. Den Hügel hoch läuft Hassan wie Cristiano Ronaldo, wenn er deprimiert ist. Sein stocksteifer, muskulöser Oberkörper beugt sich dann nach vorn, als würde er gleich das Gleichgewicht verlieren, die Schultern hängen seltsam tief. Auch sonst ähnelt er dem Fußballstar: das rabenschwarze Haar nur noch kürzer, die Augen dunkler, das Gesicht kantiger. Bergab dann Seitenstechen. Aber, sagt sein Trainer, die Jungs wissen genau, wie schnell sie laufen dürfen. Selbsteinschätzung ist Teil des Lauftrainings. Andere preschen los und sind dann ziemlich fertig, ein Läufer der JVA Hövelhof wähnt sich 20 Meter zu früh am Ziel und setzt sich erschöpft in den Schatten der Knastmauer. Hassan hält das Tempo. Ein paar Gefängnisinsassen in den sandsteinfarbenen Bauten haben die Vorhänge zur Seite geschoben, umklammern die Gitterstäbe ihrer Fenster und blicken auf die keuchenden Läufer hinab. Manche sind muskulöse Brocken mit Tattoo und wenig Kondition, andere sehen in ihren Lauftrikots aus wie Zehntklässler bei den Bundesjugendspielen. Die Teams bekommen Kuchen, Getränke, Kaffee und Brötchen. "Vor der Siegerehrung läuft garantiert keiner weg", scherzt Anstaltsleiter Joachim Walter. Ein Polizist stützt unter einem Pavillon gelangweilt den Kopf in die Hand.
In seinem Gefängnis verhält sich Hassan vorbildlich. Er ist Stationshelfer, verteilt jeden Morgen um sechs Frühstück, von 7 bis 15 Uhr lernt er malern, zwischendurch Mittagspause. Wahrscheinlich wird er bald vorzeitig entlassen. Sonst sei es ruhig im Jugendknast, nur einmal hätten ein paar Russen versucht, Schutzgeld zu verlangen, dann gabs eine Massenschlägerei "Kanaken gegen Russen", erzählt Hassan. Seither sei Ruhe.
Davor sah sein Leben anders aus: Seine Eltern kennt er nicht mehr. Er sei am 1. 1. 1989 geboren, sagt er. Wahrscheinlich ein willkürliches Datum, aber so läuft das in Marokko, sagt seine Sozialarbeiterin. Wenn man in einem abgelegenen Dorf in den Bergen aufwächst, geht der Vater irgendwann zu einer Behörde und sagt, er habe nun einen Sohn, und dann wird der Erste des Jahres als Geburtsdatum gewählt. Mit neun dann die Flucht: Sein Vater nimmt ihn mit in die spanische Nordafrika-Enklave Melilla, um Einkäufe zu erledigen, und lässt ihn zurück. Vergessen oder ausgesetzt, oder vielleicht ist er auch weggerannt, so genau will Hassan das nicht ausführen. Jedenfalls nimmt ihn eine Marokkanerin über Spanien nach Deutschland mit, wo er illegal bei Verwandten lebt. Die liefern ihn irgendwann in einem Heim ab. Er bricht immer wieder aus, treibt sich auf dem Frankfurter Bahnhof rum und spricht schließlich ein paar Marokkaner an, deren Sprache er erkennt. Da war Hassan 13 Jahre alt, nicht strafmündig, also benutzten sie ihn als Dealer. "Sie haben ihn regelrecht missbraucht", sagt seine Sozialarbeiterin. 150 Gramm Kokain verkauft er in einer Nacht, rechnet er vor. Einkaufspreis 20 Mark pro Gramm, im Schnitt verkauft er 0,3 Gramm für 40 bis 60 Mark weiter. Macht 12.000 Mark Gewinn mit Drogen - in einer Nacht, behauptet er. Prahlerisch klingt das nicht, er berichtet eben aus seiner Kindheit.
Auch die anderen Insassen in Adelsheim klingen nicht so, als seien sie stolz auf ihre Verbrechen. In der Kantine essen drei Jungs Spaghetti mit Hackfleischsoße, den Tisch ziert eine grüne Tischdecke, in der Mitte steht eine Plastiksonnenblume. John* mit Afrolook und weißem Muskelshirt findet das Essen eklig. Jan* mit Schlabberklamotte und Goldkette schaut jedem möglichst lange und intensiv in die Augen und erzählt von seinem zweiten Rap-Album. Er ist im gelockerten Vollzug, kann 24 Stunden am Tag raus aus der Zelle, kochen, trainieren, Tischtennis spielen, Musik machen. Anton* mit kurz geschorenem Haar findet das Essen viel zu gut für einen Knast. Warum sie hier sind? Schwerer Raubüberfall. Räuberische Erpressung. Schwere Körperverletzung. Einer hat acht Jahr bekommen. "Man lernt, seine Freiheit sehr zu schätzen", sagt er und ergänzt, dass er bereue, was er getan hat.
Sie haben alle eine deutsche Staatsbürgerschaft, machen eine der vielen hier angebotenen Ausbildungen, etwa zum Kfz-Mechaniker, Elektriker oder Metzger. Vielleicht werden sie draußen Arbeit finden und sich ein normales Leben aufbauen. Hassan ist ein Problemfall für die Behörden. Er darf nach der Entlassung nicht arbeiten, als straffällig gewordener Ausländer bekommt er eine Duldung, bis er abgeschoben wird. Was in seinem Fall nicht geht. Was Hassan auch weiß. Ob er die deutschen Behörden bewusst im Unklaren lässt, wie sie seine marokkanische Staatsbürgerschaft nachweisen könnten? Nein, behauptet er. Was soll ich in Marokko?
"Die Ausländerbehörde hofft, dass er seine Identität preisgibt. Das Gesetz ist so ausgelegt, dass man die Leute aus Deutschland wegkriegen will", sagt seine Sozialarbeiterin, die den Teil des Aufenthaltsgesetzes "ziemlich bescheuert" findet. Im Gefängnis müht sich der Staat mit allen Mitteln, Hassan Bildung und Perspektive zu geben. Jenseits der Gefängnismauern fiele er durch alle Raster und müsste untätig in einer Asylunterkunft rumsitzen. Wenn es nicht seine deutsche Freundin geben würde, die Hassan bei sich aufnimmt. Er hofft, sie später zu heiraten. Die Zeit im Gefängnis war sehr gut für ihn, sagt er, er habe gelernt, regelmäßig früh aufzustehen, ein Nein zu akzeptieren, und viel nachgedacht. Ein externer Psychologe hat ihm ein sehr gutes Gutachten ausgestellt.
Im Rennen hat Hassan noch ein paar Meter zum Ziel: ein Tor mit den drei Löwen des Wappens von Baden-Württemberg. Das Lauftrikot klebt am Körper, der Zweite ist weit hinter ihm noch oben auf dem Hügel, Hassan hat genug Zeit, die Arme nach oben in den blauen Himmel zu reißen. Dann klatschen sie, in die Hände und auf seine Schulter, er lässt sein Trikot über seinem Kopf kreisen. Siegestanz auf dem Rasen. Hassan sagt, wenn er raus ist, will er ein ganz normaler Bürger werden.
*Namen geändert
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