Ausgehen und rumstehen von Tim Kemmerling: Der Wannabe-Künstler auf der Fotoausstellung
Wie so viele Leute in Berlin bin ich umgeben von Kunstschaffenden. Ob mein Mitbewohner, mein ältester Schulfreund oder meine Ex. Alle haben sie was mit Kunst am Hut. Abgefärbt hat das auf mich nie, ich habe die künstlerische Begabung von einem untalentierten Kleinkind. Ich sehe in den meisten Werken nicht die tiefgreifenden Bedeutungen, die andere darin erkennen. Das lasse ich mir allerdings nicht anmerken, niemals. Das ist aber gar nicht so einfach. Ebenjener Schulfreund, Simon, hat gerade eine Ausstellung im Foyer des Landtags in Potsdam. Er und sein Jahrgang, der Fachhochschule Potsdam, stellen ihr Semesterprojekt „Drängende Gegenwart-Fotografie als Forschungsinstrument“ aus. Es geht um akute gesellschaftliche Probleme wie Atomkriege, Klimakatastrophen und den Tod.
Zur Ausstellungseröffnung, der Vernissage, bin ich natürlich erschienen. Ist ja immer schön zu sehen, was Freunde so außerhalb von dem machen, was man sonst so von ihnen mitbekommt. Auf dieses Event habe ich mich optisch vorbereitet, Künstler*innen sind nämlich auch kleidungstechnisch sehr stilsicher, und die Location mahnt an, dass es ein wenig feiner werden könnte. Da will ich nicht auffallen. Nicht dass den Kunst-Studis sofort auffällt, dass ich weder Kunst noch Grafikdesign, sondern VWL studiere.
Im Landtag angekommen schreitet man erst mal durch den pompös verzierten Innenhof. Drinnen werde ich hektisch. Wo ist Simon? Ich kenne sonst niemanden und will nicht der Typ sein, der allein in einer Ecke rumsteht, das outet mich ja direkt. Außerdem könnte mir Simon erklären, was die Fotoserien für Bedeutungen haben, dann könnte ich mir meine halbgaren Interpretationen sparen. Ohne Simon gehe ich erst mal zur Bar, Weinschorle bestellen. Ich trinke nie Weinschorle, trotzdem sprudelt „Weinschorle“ nur so aus mir heraus, als ich gefragt werde, was ich haben will. Mein Wannabe-Künstler Ego übernimmt. Das ging jetzt echt schnell. Immer noch keine Spur von Simon. Langsam schlendere ich zu den Fotoserien, bloß nicht dumm rumstehen. Dabei halte ich mich an meiner Weinschorle fest, trinke viel zu schnell aus. Akribisch lese ich die Texte zu den Fotoserien. Falls mich jemand – wieso auch immer – ansprechen sollte, kann ich so mein Unwissen mit Infos der Plakate verdecken. Die Texte sind auf große Plakate gedruckt und hängen wie die Bilder an der Wand. Praktisch, da kann ich mich davor stellen und wirke, als wäre ich in die Werke vertieft. Niemand spricht mich an. Muss an meiner Taktik liegen, bilde ich mir ein. Mit den Texten bin ich mittlerweile durch. Jetzt schaue ich mir die Fotos an. Hände mal hinterm Rücken, mal verschränkt vor dem Körper, kritischer Blick, mal ganz nah am Werk, dann wieder weiter weg, Perspektivwechsel. Ganz wichtig. Mir fällt auf, dass die anderen Leute viel länger an den Fotos stehen bleiben als ich. Wahrscheinlich liegt das daran, dass die mehr in den Fotos sehen …
Endlich finde ich Simon. Er führt mich durch die Ausstellung. Jetzt bin ich entspannter. Das ganze Gehabe, um möglichst „artsy“ auszusehen, brauche ich nicht mehr, ich bin ja jetzt mit dem Künstler selbst unterwegs. Deswegen muss ich auch nicht mehr so auf die Bilder starren, mein Blick schweift durch den Raum. Ich verliere den Selbstfokus, den ich aus Unsicherheit angelegt habe, und mir fällt auf, dass um mich rum alle entspannt sind, niemand beäugt mich kritisch. Die Studis freuen sich, dass ihre Friends und Family gekommen sind. Es sind auch Leute hier, die überhaupt nicht in mein Bild von Kunstschaffenden oder Kunstinteressierten passen. Trotzdem sind die sehr locker und machen aus dem Ganzen nicht so einen Affentanz wie ich.
Ich glaube, ich habe, was solche Ausstellungen und wahrscheinlich sogar was Kunst an sich angeht, etwas völlig falsch verstanden. Künstler*innen wollen nicht gatekeepen. Sie wollen nicht, dass nur bestimmte Leute daran teilhaben können. Ich denke mit meiner Laieneinschätzung, dass Künstler*innen gerade Leute erreichen wollen, die sonst nichts mit Kunst zu tun haben. Vielleicht ist es ja unter Künstler*innen sogar die Königsdisziplin, Menschen wie mich von ihren Werken zu überzeugen, uns Denkanstöße zu geben. Ich bin mir nämlich sicher, dass es schwerer ist, mich durch ein Foto oder Bild zu inspirieren als echte Kunstkenner.
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