Ausgehen und rumstehen von Stephanie Grimm: So trickst man den Herbst aus: mit sieben Tagen Wochenende
Langsam offenbart der Herbst seine wahre Agenda. Nachdem er lange hübsch getan hat, mit bunten Blättern und brüchigem Licht, wird klar, worum es eigentlich geht: Die Welt nackt und grau machen! Den Winter anmoderieren! Soziale Spaltung! Wer geht schon vor die Tür, wenn es dunkel und kalt ist? Man kennt es und ist doch immer wieder überrascht. Warum nicht mal eine neue Taktik antesten? Ist Angriff nicht die beste Verteidigung?! Statt die Decke über den Kopf zu ziehen: rausgehen und laut „Fuck you, Winter“ sagen. Jeden Tag.
Am Freitag, pünktlich zum Wochenendauftakt, bin ich langsam erschöpft. Ist ja schon Tag fünf des Selbstversuchs, der erstaunlichen Spaß macht, obwohl er kontraintuitiv anmutet. Sinkanes Afropop am Dienstag im Gretchen war wild und psychedelisch. Am Mittwoch dann Karpov not Kasparov im Kiezsalon, mit Synthiepop aus Rumänien, der angeblich auf den Strategien des Schachspielens beruht. Wer in dieser Welt wirklich die coolere Socke war, Karpov oder doch Kasparov – keine Ahnung.
Ist auch egal: Die beiden ganz in Weiß gekleideten Typen spielen vergnüglichen Pop mit Überraschungsschlenkern. Vielleicht ist Letzteres das behauptete Schachelement. Dazu verrenken sich zwei Frauen in Schwarz recht enigmatisch. Irritierend nur, dass sich das Projekt als Duo verkauft, womit die Typen gemeint sind. Wo doch die Tänzerinnen eindrücklicher schuften.
Trotz Ermüdung geht es also am Freitag nach Potsdam. Die wenigen Passanten, die ich im nassen Niemandsland nach dem Weg frage, gucken erschreckt. Dabei haben wir nur kein smartes Telefon und finden das Waschhaus nicht. Dort spielt der Expander des Fortschritts, die Band, die ob ihres Avantgarde-Drehs noch mehr anders war als der Rest des DDR-Undergrounds. Letzte Woche in Prenzlauer Berg war es bei der kleinen Reunion-Tour voll, in Potsdam gibt’s dagegen eine recht exklusive Performance. Obwohl die Band mit der Wiedervereinigung schon Geschichte war und ich die letzten Zuckungen der DDR, als die Band aktiv war, nicht miterlebt habe, wirkt so manches Stück wie der perfekte Soundtrack zu den frühen Neunzigern in Berlin. Viel passender jedenfalls als die Schlagworte, die heute dazu im Umlauf sind. Aber das ist wohl dem Stadtmarketing geschuldet. Klar, die Situation war einzigartig, die Stadt eine Spielweise, aber sie war auch rumpelig, harsch und unwirtlich – nicht der hedonistisch-entgrenzte Feierhimmel, zu dem sie später mythologisiert wurde.
Dass der Mythos zieht, zeigt sich am nächsten Tag im C/O. Die Ausstellung „No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 – Today“ ist unglaublich voll. Eine ehrfürchtig dreinguckende Gruppe wird auf Englisch durch die Ausstellung geleitet. Etwas verwundert scheinen die eher spätgeborenen Besucher, wie räudig und eher unglamourös die legendären Venues aussahen.
Dass seither nicht alles schlechter geworden ist, zeigt sich später im Haus der Berliner Festspiele beim Jazzfest. An der klanglichen Umsetzung eines Pilzgeflechts versucht sich das KIM Collective. So richtig erschließt sich das nicht. Doch ab und zu bringt jemand einen frittierten Pilz vorbei – und der ist lecker. Das Trio Melez um die Vokalisten Cansu Tanrıkulu macht einen wirklich wilden, tollen Ritt, und im Late Night Lab stellen verschiedene Projekte aus São Paulo etwas arg Interdisziplinäres auf die Beine: mit Tanz, von Holzschuhen erzeugten Beats, improvisierter Musik und einigem mehr.
Am meisten Spaß hat man da aber, wenn man die 3-D-Brillen, die man für die Visuals in die Hand gedrückt bekam, ignoriert, die Augen schließt und einfach zuhört.
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