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Ausgehen und rumstehen von Peter WeissenburgerIm queeren Zickzack durch Fomo-Town

Manchmal vergesse ich, wo Friedrichshain ist. Denn von Süd-Neukölln dorthin zu radeln, ist kontraintuitiv. Man biegt dauernd ab, halb links hier, halb rechts da, in Sackgassen und in Nebenstraßen, die es einem schwer machen, sich an sie zu erinnern.

Aber in der Bar zum schmutzigen Hobby wird heute Abend ein sogenanntes Drag-Musical gegeben, Titel: „Magnus Hirschfeld Superstar“. Also fahre ich zickzack nach Friedrichshain. Und was soll ich sagen, beinahe hätte ich vergessen, was für grandiose Sonnenuntergänge man auf der Modersohnbrücke erleben kann. Es ist, als fließe das goldene Licht von Westen her über die Schienen der Stadtbahn auf dich zu, ein riesiger Caprisonne-Strohhalm direkt in deine Seele.

Aber ich bin spät dran und strample weiter, mit der ersten Mikro-Reue des Wochenendes. Ich muss ja nicht erklären, dass Berlin Fomo-Town ist. Wir leben in labiler Raumzeit, irgendwo zwischen nostalgischem Konjunktiv („ich wäre ja gerne“) und Futur-Imperfekt („ich sollte echt mal“).

Pünktlich und ohne Sonne im Herzen komme ich beim Drag-Musical an. „Vermutlich total Trash, aber trotzdem spannend“, hatte die Siegessäule geschrieben. Diese gemeine Gans. Meine Begleitung ist wehmütig – ihr steht diese Woche ein großer Abschied bevor. Und ich habe ohnehin gesteigerten Weltschmerz. Wir brauchen den Trash beide – dringend.

Die Va­rie­té­künst­le­r*in­nen Fitim Qenaj, Marcella Midnight, Ludwig Uebe, Olga Wodka und Brigitte Skrothum entführen in die Weimarer Republik – genauer: in das Milieu um Sex-Gender-Mediziner Hirschfeld. Dabei wechseln sich ab: berührende Geständnisse von historischen Weg­be­glei­te­r*in­nen und Schlager; Mahnungen vor dem Faschismus der Gegenwart und heiteres Penisse-Raten; Einblicke in die Medizingeschichte des frühen 20. Jahrhunderts und Tanzeinlagen von Nazi-Lesben in Lack und Leder. Das Ganze in beengten Verhältnissen – der Art, wo, wenn jemand pinkeln muss, das halbe Publikum einmal kurz aufsteht. Bei dieser eleganten Imperfektion frage ich mich, ob es nicht okay gewesen wäre, hätte ich den Sonnenuntergang auf der Modersohnbrücke noch kurz genossen und erst zur Hälfte des ersten Akts – Pardon, Entschuldigung, dürfte ich mal eben, sehr nett, Danke – meinen Platz eingenommen.

Im Mai gibt es weitere vier Vorstellungen, ein Besuch von „Magnus Hirschfeld Superstar“ ist zu empfehlen: um sich die Weltlage von der Seele zu lachen, als besonderer Abend mit der Lieblingstante – oder einfach um zickzack nach Friedrichshain zu fahren.

Überhaupt, die kontraintuitiven Wege in dieser Stadt, wird mir klar, haben System. Am nächsten Tag verfranse ich mich auf dem Weg nach Schöneberg, weil ich immer Kolonnen- mit Monumentenstraße verwechsle. Ich erreiche verschwitzt und abgehetzt das Schwule Museum, nur um zu erfahren, dass die Führung, zu der ich gerade 15 Minuten zu spät komme, ausfällt. Übrigens bei der Gelegenheit der Tipp, sich, wer’s noch nicht getan hat, „Young Birds from Strange Mountains“ anzusehen, die Ausstellung über queere Kunst aus Südostasien und seiner Diaspora. Man stöbert in Zines und bewundert einen riesigen Penis aus recycelten buddhistischen Mönchskutten. Mein persönliches Highlight: eine thailändische Stummfilmkomödie aus den 50er Jahren, in der eine elegante trans Frau die Köpfe von jungen Herren verdreht.

Auf dem Rückweg gerate ich in den Gleisdreieckpark. Diese Grünfläche ist speziell dafür designt, dass man nie wieder rausfindet. Also bleibe ich einfach da. Und so komme ich dann doch noch zu meinem kitschigen Sonnenuntergang. Der Punkt von Berlin ist eben nicht, schnell am Ziel an-, sondern schnell vom Weg abzukommen. Deswegen sind wir hier. Gradlinig geht überall.

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