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Ausgehen und rumstehen von Merle ZilsNoch wichtiger als Surrealismen

Was ein gemütlicher Abend in Charlottenburg werden sollte, beginnt in der S5 Richtung Mitte. Mein Ticket muss ich auf der Museumsinsel abholen. Die Technoparade „Zug der Liebe“ versperrt mir den Weg. „Coole Party“, denke ich, überlege mitzugehen, aber heute ist nicht so ein Tag.

Heute ist mir nach Zuhören und Lernen. 75 Museen nehmen in diesem Jahr mit Workshops, Führungen, Partys und mehr an der alljährlichen „Langen Nacht der Museen“ teil. 48.000 Menschen sollen dabei gewesen sein, so werden es die Organisatoren am darauffolgenden Tag vermelden. Zum Großteil zog es die Massen in die bekannten Häuser wie das Humboldt-Forum oder das Naturkundemuseum nach Berlin-Mitte. Die haben sicherlich einiges zu bieten, aber warum sich nicht mal auf die Suche nach ein paar übersehenen Orten begeben?

Charlottenburg heißt es, verstecke einige unterschätzte Museen. Charlottenburg, da denke ich an Reichtum, Ruhe und entspannte Spaziergänge. Abseits des Großstadt-Trubels will ich mich statt Partys, Networking-Events oder zu Hause FOMO-Schieben lieber in der Kultur verlieren.

Die unterschätzteste Kunstsammlung Berlins soll ja die Sammlung Scharf-Gerstenberg sein. Eine Kunstexpertin führt durch die Sonderausstellung zu surrealistischen Welten. Eine der renommiertesten ihrer Art sei es, „um die man uns in Paris und überall auf der Welt beneidet“, erzählt sie. Surrealismus sei keine Stil-, sondern eine Geisteshaltung. Kurz erklärt: Die Welt ist so unbegreiflich, deshalb schafft der Surrealismus Bilder, die nicht den Anspruch haben, die Realität exakt darzustellen. Die Werke der Sonderausstellung sind passend zu ihrem Titel „STRANGE!“.

Dem Rationalen in surreale Welten entfliehen – klingt verlockend. Dennoch arbeiten sie politische Themen und menschliche Ängste auf. Wie „Horizont“ von Wolfgang Mattheuer, in dem er das Leben unter ständiger Angst vor Stasi-Überwachung in der DDR in einer Wüste darstellt. Surrealismus, denke ich beim Betrachten, würde auch aktuell gut funktionieren. Donald Trump und Elon Musk im Duell in einer dali'schen Wüste, aber statt Pistolen halten sie Bananen in den Händen oder irgendwie sowas. Naja, eine KI hat das sicherlich schon erstellt.

Ich laufe vorbei am Schloss, fühle mich klein gegenüber dem Gebäude und der Geschichte, die es trägt. Die Wohnhäuser sind Jugendstil, die Straßenlaternen auch. Es sind einige Gaslampen darunter, im Rahmen der Langen Nacht kann man beim Anzünden dabei sein. Sie leuchten weniger hell als ihre modernen LED-Kolleginnen. Charlottenburg ist wohl einer der wenigen Orte, an denen Berlin nachts noch ziemlich dunkel ist.

Die Villa Oppenheim beherbergt das Stadtteilmuseum und aktuell eine Ausstellung zur armenischen Diaspora in Berlin. Anlass ist der 110. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Ein Genozid, der viel zu selten thematisiert und viel zu spät (2016) von Deutschland anerkannt wurde. Die armenische Musikerin Talin Hajintsi gibt hier einen Workshop zu ihren kulturellen Tänzen. Diese, merke ich, waren und sind Zeichen des Widerstands. Flüchtende brauchen immaterielle Erinnerungen, denn materielle müssen sie zurücklassen. Die Community aus Museumsbesuchenden hält sich an den Händen, steht eng zusammen, stampft gemeinsam im Takt auf den Boden. Der Gesang von Hajintsi klingt kraftvoll. In diesem Hinterhof irgendwo in Charlottenburg entsteht so ein wenig Zusammenhalt. Das, so denke ich beim Zuhören, ist noch wichtiger für die Gegenwart als die Surrealismen.

Mit dem Kopf noch bei all dem Neugelernten über Charlottenburg, Surrealismen und armenische Kultur laufe ich auf dem Weg nach Hause an einem Mann vorbei. Er pfeift mir penetrant hinterher. Na ja, Charlottenburg ist immer noch Berlin.

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