Ausgehen und rumstehen von Marie-Sofia Trautmann: Wundern begegnen
Es gibt Dinge, die in der Kindervariante besser sind. Haargummis mit Erdbeeren sucht man für Erwachsene vergebens, Pinocchio-Eis mit Waffelohren und Smarties-Augen leider auch. Kinderbücher sind schöner illustriert, Kinderregenjacken haben die lustigeren Farben (wer würde bei grauem Wetter auch noch eine graue Jacke tragen wollen?). Kinderregenstiefel können blinken, während meine nur traurig quietschen. Sogar Kindertee gibt es in magischen Wortspielnamen wie „Zauberkraftee“ und Glitzerverpackung, während der für Erwachsene in meiner Küche den kreativen Titel „Hagebutte“ trägt. Darauf abgedruckt ist eine Hagebutte.
An einem grauen Sonntag im März in der Eingangshalle des Naturkundemuseums entschied ich mich aus diesem Grund für die Kinderführung. Die ganze Woche hatte ich mich in der Erwachsenenwelt wirklich gut geschlagen, ich habe meine graue Jacke getragen und mein schwarzes Haargummi. Wäre schon Frühling gewesen und kein endloser Berliner Winter, hätte ich tapfer „eine Kugel Vanille“ bestellt anstelle von „einmal Biene Maja“. Nun aber war es genug. Kurz überlegte ich, ein fiktives Patenkind vorzuschieben, das ich murmelnd erwähnen und dann den Kinder-Audioguide starten würde. Ich entschied mich dagegen und schritt ohne jede weitere Erklärung erhobenen Hauptes in den Dinosaal. Sofort fühlte sich meine Jacke weniger grau an.
Kindern werden Dinge natürlich anders erklärt. Ihnen werden allerdings auch andere Dinge erklärt, weil sie sich andere Fragen stellen. Während ich den für Kinderohren konzipierten Ausführungen zum Brachiosaurus lauschte und ab und zu einen Blick auf die strengen Informationstafeln für Erwachsene warf, dachte ich schnell: Oft stellen sich kleine Wesen offensichtlich sogar die besseren, spannenderen und intuitiveren Fragen. Wie verdaut ein so großer Dino diese Mengen an Essen denn nur, obwohl sein Magen gar nicht so groß aussieht? Wieso war das Urpferd so winzig klein? Und gab es schon immer Sauerstoff auf dieser Welt?
Kinderführungen setzen kein, wirklich gar kein Wissen voraus, und genau dieses Von-Grund-auf-Erklären ist auch für Menschen jenseits der Volljährigkeit bereichernd. Die Erwachsenenwelt hat unausgesprochene Prämissen, die ‚man eben weiß‘ und nach denen man nicht fragen kann, ohne sich zu fühlen, als würde man eklatante Bildungslücken entblößen und Gefahr laufen, seinen Schulabschluss wieder hergeben zu müssen. Wer weiß schon nicht XY (hier können wahlweise die Einwohnerzahl Norwegens, der Anteil von Wasser an der Erdoberfläche und die Lebensspanne von Dinosauriern eingesetzt werden)? Befreit man sich von dieser Denkweise, lernt man Dinge völlig neu und merkt, wie viele Lücken eigentlich im eigenen Kopf umherschwirren – und wie diese Lücken von einer freundlichen Stimme für Grundschulkinder geduldig aufgefüllt werden können.
Nach dieser Kinderrundführung weiß ich, wie das halbgestreifte Zebra, das Quagga, aussah. Ich habe verstanden, warum Lemuren als Weltmeister der Spezialisierung gelten und wieso so wenige Haiskelette fossiliert gefunden werden können. Während die Erwachsenen mit andächtiger Ernsthaftigkeit durch die Ausstellung schritten, starrte ich so ehrfürchtig und fasziniert wie die dinomützigen und eine Bestechungsbifi futternden Kinder neben mir auf die Stacheln des Dicraeosaurus und die größte Libelle, die je gelebt hat, und hatte das Gefühl, einem Wunder nach dem anderen zu begegnen.
Möchte ich ab jetzt mehr über ein Thema lernen, werde ich mir ab und zu ein Buch von meinem sechsjährigen Neffen ausleihen. Und ganz sicher kaufe ich mir heute eine glitzernde Packung magischen Kindertee.
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