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Ausgehen und rumstehen von Katrin Bettina MüllerKrach am Kühlschrank, Vorsicht an der Bar

Der Tisch. Das Brot. Die Nähmaschine. Der Kühlschrank. Alles wieder da. Das Brot, es fliegt wie ein Basketball durch die Luft. Einer fängt es im Sprung, der Tänzer Edivaldo Ernesto, die anderen vier am Tisch ziehen lange Gesichter. Nur Krümel teilt er ihnen zu. Der Kühlschrank, hops, sitzt eine oben drauf und knallt mit der Ferse die Türe zu, die ein anderer gerade aufgerissen hat. Der Kampf ums Futter tobt in dieser Küche.

Und das ist nicht der einzige Kampf in Sasha Waltz’ Stück „Twenty to eight“, das 1993 im Grand Theatre Groningen seine Premiere erlebte. Am Freitag war ich in der 175. Vorstellung des Stücks in den Sophiensælen. Wehmut hatte ich erwartet, ein bisschen Rührseligkeit, sind doch die frühen Stücke von Sasha Waltz auch mit meiner Geschichte als Tanzkritikerin verbunden. Aber die Inszenierung fegte das hinweg, die irrsinnigen Beschleunigungen und Wiederholungen, mit denen sich die Tän­ze­r:in­nen an den Dingen reiben und mit denen sie ihre Beziehungen aushandeln. Härte und Zärtlichkeit, Konkurrenz und Freundschaft, Eifersucht und Solidarität: Alles wird so leicht, witzig und spielerisch verhandelt. Das war damals selten im Tanztheater und ist es auch heute wieder.

Takako Suzuki tanzt an diesem Abend wieder mit, sie hat mit Sasha Waltz schon in den ersten Dialogen gearbeitet, im Künstlerhaus Bethanien, die „Twenty to eight“ vorausgingen. Sie hat ein sehr eigenes Temperament, dominante Entschiedenheit, gepaart mit skurriler Selbstironie. Dabei ist ihr Gesicht stoisch. Sie ist an diesem Abend aus der Originalbesetzung dabei. Wieso merkt man nicht, dass sie jetzt 30 Jahre älter ist?

Jochen Sandig, Sasha Waltz’ Produzent und Partner, begrüßt im Publikum in einer kurzen Rede Jan Stelman, der in Groningen die Premiere ermöglichte. Dann erst begann mit „Twenty to eight“ der Erfolg von Sasha Waltz in Berlin. Waltz und Sandig gründeten mit anderen die Sophiensæle als neuen Spielort. Sechs Vorstellungen haben sie an diesem Wochenende hier abends und nachmittags gegeben, sechs folgen am kommenden Wochenende im Radialsystem. Solch starke Präsenz will auch ein Zeichen sein gegen die starken Kürzungen, die auch die Compagnie Sasha Waltz & Guests betreffen. Kämpft alle gegen den Kulturabbau, gibt Sandig dem Publikum mit.

Am Samstag ist Primeltag. Menschen imitieren Pflanzen. Die Füße im Matsch halten wir beim Gang um einen kleinen See im Westend das Gesicht grimelnd in die Sonne. Dort in der Nähe hatte die Wilms Neuhaus Stiftung Zukunft und Gestaltung zu einem Vortrag von Esther Slevogt eingeladen über das Theater und den Zufall. Esther, auch taz-Autorin und Mitbegründerin von Nachtkritik, hat den Zufall unter anderem bei Lessing und Schiller untersucht. Den Schicksalsmuskel im Theater trainieren, die Formulierung setzt sich fest. So beschrieb sie Schillers Intention: Im Theater könne der Mensch lernen, sich dem Zufall/Schicksal nicht blind zu unterwerfen.

Das brachte mich in Gedanken zurück zu „Sing Sing“, einem gerade im Kino angelaufenen Film des Regisseurs Greg Kwedar über eine Theatergruppe im Gefängnis. Am Donnerstag war ich fast allein in der Nachmittagsvorstellung in der Kulturbrauerei, musste keinen Schniefer unterdrücken. Emotionen kommen, man leidet mit. Wer daran zweifelt, ob Katharsis und Läuterung, Aufklärung und Mündigkeit heute noch erreicht werden durch die Kraft des Theaters – in „Sing Sing“ wird es überzeugend vorgespielt.

Dass man im Theater auch anders in Mitleidenschaft gezogen werden kann, darüber informierte ein Aushang an den Toilettentüren, den ich am Sonntag im Deutschen Theater sah. „Achten Sie auf ihre Getränke. Es ist in der Vergangenheit zur Vorfällen mit Substanzen gekommen“, so ging die Warnung. Die Bar war trotzdem voll und die Stimmung freundlich.

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