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Ausgehen und rumstehen von Julian SadeghiAlle gemeinsam verrückt werden

Es ist Sonntagmorgen, ich öffne den Kühlschrank, die Kühlschranklampe flackert schon wieder, sie flackert heftig. Wir haben versucht, sie auszutauschen, aber das geht nicht, weil der Kühlschrank zu billig war und die Lampe darin fest verbaut ist. So flackert es nun, und in meinem Kopf, bemerke ich, flackert es an diesem Morgen auch ein bisschen. Wir waren am Abend vorher mal wieder im Kuckucksei. Fixpunkt eines guten Wochenendes ist oft ein Besuch dort. Ich kenne mich nicht so gut aus in Schöneberg, aber zum Kuckucksei navigiere ich mich im Schlaf. Seit Beginn des Studiums gehen wir hier immer mal wieder hin und irgendwie ist es in all den Jahren dabei geblieben. An den Wänden hängen St.-Pauli-Flaggen und ein sehr großer Rudi Dutschke, es gibt Rothaus und der Mexikaner ist auch sehr gut.

Man schreit sich dann ein paar Stunden lang die Seele aus dem Leib, denn an ein normales Gespräch ist nicht zu denken, die Akustik, die Akustik… und dann ist auch wieder gut. Also alles, alles ist dann wieder gut, zumindest kurz. Worüber wir reden, ist eigentlich auch ein bisschen egal und meistens am nächsten Morgen ohnehin nicht mehr zu rekonstruieren. Es zählt die Heimeligkeit. Am Ende geht man wieder und eigentlich stimmt auch das nicht: Man plumpst, denn die zwei Stufen, die auf die Barbarossastraße runterführen, vergesse ich jedes Mal auf Neue. Die abgegriffene Holztür kracht zu, und manche Frage ist offen geblieben.

Zersiedelte Gegend

Am Sonntag Kaffeetrinken. Wir wollen zum Lobe Block. Ich war noch nie dort, obwohl ich ums Eck wohne. Das Haus steht inmitten der zersiedelten Gegend südlich vom Bahnhof Gesundbrunnen. Hier hat augenscheinlich noch keine Stadtplanung stattgefunden, denn es reihen sich aneinander: eine Kletterhalle, unübersichtliche Fabrikkomplexe und Hotels, die vermutlich fast nur von preisbewussten Leh­re­r*in­nen mitsamt ihrer 10. Klasse auf Berlinexkursion gebucht werden. Außerdem Fähnchen-Autohändler und einer der bizarrsten Orte der Gegend: ein Camper-Stellplatz. Auf der trostlosen Brachfläche neben der Ringbahntrasse stehen zwei Dutzend Campingmobile, eingezwängt zwischen schiefen Backsteinmauern. Es gibt keinen einzigen Baum, umso erstaunlicher die Namensgebung: „Wohnmobil-Oase“.

Der Lobe Block selbst ist brutalistische Baukunst, eigentlich eine einzige große Betontreppe und einer der Yuppie-Hotspots im Umkreis. Entworfen hat die Treppe der Architekt Arno Brandlhuber. Der scheint in Berlin eine ambivalente Rolle zu spielen, setzt er sich doch einerseits für eine Weiternutzung des wunderschönen Lichterfelder Mäusebunkers ein (gut) und hat er sich doch andererseits an den entsetzlichen Luxusbauten am neuen Tacheles beteiligt (schlecht). Der Lobe Block kann sich aber sehen lassen, von den Terrassen des Treppen-Hauses hat man eine gute Aussicht, alles ist schick. Es sieht aus, als gäbe es hier lecker Törtchen auf selbst getöpfertem rauen Keramikgeschirr und angeblich laufen im Sommer sogar Hühner durch den Garten. Bloß: Die Grippewelle ist laut Aushang über die dünne Personaldecke gerollt, das Café hat geschlossen und es gibt keine Törtchen auf selbst getöpfertem rauen Keramikgeschirr.

Wir ziehen weiter zur Panke runter und reden über das aktuelle Weltgeschehen, Geseufze. Immerhin der Ausgang der Parlamentswahl in Polen. Ja das stimmt, aber es ist schon bizarr, fällt uns auf, wie man sich an guten Wahlausgängen in anderen Ländern festklammert, um zumindest nicht ganz den Glauben zu verlieren: Joe Biden 2020 und Lula da Silva 2023 sind zwei Beispiele dafür. Wie kann es sein, dass ausgerechnet derartig alte, ja greise, weißhaarige Männer das beste Aufgebot derer sind, denen die Demokratie etwas bedeutet?

Am Abend noch ein Theaterbesuch bei Polleschs „Fantômas“ in der Volksbühne. Welch Dialogreichtum, wir versuchen, mitzudenken, es gelingt nicht immer, doch hängen bleibt folgende Sentenz, sinngemäß:

„Die Deutschen sind keine Künstler, allenfalls Denker. Künstler werden stets alleine verrückt – aber die Deutschen wollen immer alle gemeinsam verrückt werden.“ Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen.

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