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Ausgehen und rumstehen von Julia HubernagelDas Leben ist eine Porträtperformance

In fröhlicheren Zeiten begann das Wochenende am Freitagnachmittag mit einem Bier in der Bar, heute warte ich allein im Behandlungszimmer eines Zahnarztes darauf, dass die Betäubungsspritze wirkt. Meine erste Karies, denke ich traurig und zupfe das T-Shirt des Zahnarztplüschmaskottchens auf dem Fenstersims gerade. Draußen ist es dunkel, aber im Haus gegenüber haut ein Typ zum Schein der Schreibtischlampe in die Tasten seines Laptops. Im Behandlungszimmer gibt es keine Jalousien, der Nachbar kann also so oft er will den Operationen auf dem Zahnarztstuhl gegenüber zuschauen. Womöglich ist es der Arbeit zuträglich, das Leid so nah vor Augen zu haben, als ewige Drohung.

Der Autor Georges Bataille wusste das immerhin auch für sich zu nutzen, auf seinem Schreibtisch soll ein Foto von einem gefolterten Mann gestanden haben. Ihm hat der Anblick dieser Quälerei angeblich kein Vergnügen bereitet, aber er konnte sich extremes Leiden so als etwas, das mehr ist als leiden, vorstellen – als eine Art von Transfiguration. Der Typ gegenüber ignoriert die Praxis allerdings vollkommen, auch, als ich ausladend winke, schaut er nicht herüber. Zwei Stunden später sitze ich mit noch kribbliger rechter Gesichtshälfte in der U8.

Für die Uhrzeit scheinen alle schon reichlich betrunken zu sein, als wüssten sie, dass heute Abend Spaß zu haben ein hartes Stück Arbeit werden würde. Im Ballhaus Naunynstraße angekommen, wird man vor Vorstellungsbeginn gleich in den Keller geschickt. Normalerweise werden hier unten an der Bar Getränke verkauft, doch weil die coronabedingt geschlossen bleibt, fühlt es sich an, als säße ich heute zum zweiten Mal in einem Wartezimmer. Während rechterhand zwei Briten die korrekte deutsche Übersetzung des Wortes „gay“ diskutieren, tauschen links zwei Mittvierziger betont leise und lässig Höflichkeiten aus, damit keiner bemerkt, dass sie sich gerade zum ersten Mal auf einem Tinderdate treffen.

Das tatsächliche Stück verlassen M. und ich dann einigermaßen unzufrieden. Im Ballhaus Naunynstraße läuft gerade eine Porträtreihe, in der die Künst­le­r:in­nen des Hauses sich und die eigenen Fähigkeiten monodramatisch vorstellen. Pepe Dayaw erzählt von seiner Kindheit auf den Philippinen, verdeutlicht tanzend, wie ihn die Miss-Universe-Wahlen beeindruckten, und macht den Einfluss der Kolonialmächte – Spanien ab 1565, die USA von 1901 bis 1946 – auf den Inselstaat in einem Lied über die Nationalgerichte anschaulich. Das Ganze wird immer wieder unterbrochen von dramatischen Karaokeeinlagen. Schließlich wird es stockdunkel – und die Performance ist beendet. Was Dayaw als Erwachsenen und was seine Kunst ausmacht, davon erfahren wir nichts.

„Mich hat das Stück an diesen griechischen Film erinnert, den wir mal zusammen geguckt haben“, sagt M. als wir auf der Straße stehen. „In dem die Männer auf der Yacht darum kämpfen, der ‚Beste in allem‘ zu sein.“ M. meint „Chevalier“ von Athina Rachel Tsangari. Darin vergleichen sich sechs alternde Männer gegenseitig in allem, was sie tun; wie sie schlafen, wie sie reden, wie schnell sie ein Ikea-Regal aufbauen können. „Ein bisschen so war das auch gerade“, sagt M. „Es wird ganz schnell alles gezeigt, was man kann; Tanz, Schauspiel, Lip sync, sogar Karaoke.“

„Sollte das Karaokesingen nicht eher auf die Ressentiments des Westens gegenüber Asien anspielen?“, frage ich und füge hinzu: „Das ist doch so ein typisches Vorurteil, dass man in Asien dauernd Karaoke singen würde.“ „Aber darum ging’s doch sonst im Stück auch nicht, um Rassismus nach dem Kolonialismus“, entgegnet M. „Es ging nur um die eigene Person, für Kunst oder Hintergründiges blieb gar keine Zeit.“

Wir schweigen eine Weile. „Vielleicht ist das auch einfach dem Format geschuldet“, sage ich, während der Wind mir hinten in die Jacke fährt. „Vielleicht darf man nicht überrascht sein, in einer Porträtperformance nichts außer Selbstdarstellung zu finden.“ „Nein, vielleicht nicht.“

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