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Ausgehen und rumstehen Von Jenni ZylkaEs war also doch nur das Lotterleben, das ihm fehlte

Was ist nur los mit dem liebevoll selbst gezogenen Avocadobaum, hab ich ihn nicht genug geküsst?! Oder zu viel? Mag er keine Frauen mehr und möchte von jemand anderem, Maskulinerem geküsst werden? Auch der Umzug ans Fenster hat das spontane Blattabwerfen nicht gestoppt – er sieht aus wie eine hochgewachsene Distel ohne Stacheln. Am Freitag spendiere ich ihm darum zunächst ein leckeres Düngestäbchen. Danach renne ich ins Kino Babylon, um Europas einziges Stummfilmorchester anzuschauen, das Brigitte Helms beeindruckende Expressionistengesten in „Metropolis“ live untermalt: Gequält krümmt sie den Körper und wirft ihn, unter der Erde, von Höhlenwand zu Höhlenwand – die Geigen quälen mit. Sie schließt und öffnet die Hände vor dem Gesicht, als ob sie Rotwangs teuflischen Plan vorausahnt – das Blech geht mit. Und kommentiert gleich darauf den schmallippig geschminkten Gustav Fröhlich. Der Mittler zwischen Herz und Hirn! So verliebt!

Wo wir gerade vom Hirn sprechen – in irgendeinem Berlinalefilm hieß es neulich, das Hirn sei nicht zufällig genauso weit vom Herzen entfernt wie das Geschlecht. Daran muss ich später in meiner Lieblingsschwulenbar denken, die seit Jahren den gleichen schwarz-weißen Pornoloop zeigt – junge Männer dringen eifrig durch die Hintertür ineinander ein, aber bevor jemand orgasmieren kann, beginnt das Einlochen von vorn. Müsste ich den Avocadobaum vielleicht mal hierhin mitnehmen? Seinen Fokus etwas auf die Sinnlichkeit richten? Hatte nicht Ralf König einst einen Comic über einen schwulen Sadomaso-Ficus gezeichnet? Probehalber kneife ich die Avocado vor dem Schlafengehen ein bisschen in den Stamm, aber Samstagmorgen ist nichts zu sehen. Dafür fällt mir auf, dass das Baugerüst vor dem Fenster im Hinterhaus den Lumengehalt im Wohnzimmer von etwa 200 auf schummerige 80 gedämpft hat – endlich kann man als Vampir auch am Tag aus dem Sarg kriechen und alte Lieblingsfilme auf der Leinwand gucken! Ich entscheide mich für „Blow Up“ und bewundere David Hemmings, der in seiner gut sitzenden weißen Hose zu Herbie Hancocks Musik nachdenkt. Und ganz anders aussieht als später in seinem Leben, hüstel. Aber das geht uns ja allen so. Warum allerdings die tolle Yardbirds-Szene musikalisch nicht synchron zur Handlung abläuft, habe ich noch nie verstanden: Wieso hört man die Rhythmusgitarre, nachdem Jeff Beck sie so filmhistorisch bedeutungsvoll zerschlagen hat? Jimmy Page spielt sie nicht, er gniedelt wie immer seine Soli auf der Fender Telecaster. Dazu gibt es bestimmt ein paar Nerd-Threads, aber bevor ich danach suchen kann, ist es Abend, und ich muss los: In der Volksbühne wird „Drei Milliarden Schwestern“ nach Anton Tschechow gegeben, eine Produktion mit dem Schauspiel-Nachwuchs-Kollektiv P14 und dem Jugendsinfonieorchester des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums.

Großartige junge Frauen schmettern Arien vom Leben und Sterben, ein Komet in Form einer Zopfträgerin in einem Kleid, das aussieht wie eine umgedrehte Springball-Eis­tüte, schaukelt über die Bühne und singt mit Engelsstimme: „Ich bin hier, um alles zu vernichten.“ Und auf dem Übertitel-Laufband steht plötzlich: „Aufgrund einer technischen Störung hat die U2 Richtung Pankow Verspätung“. Man sollte die Übertitel-Anzeige viel öfter in Stücke integrieren!

Zu Hause hauche ich den Avocadobaum mit sektschwangerem Atem an. Und siehe da – am nächsten Morgen meine ich einen neuen Trieb zu entdecken. Es war also doch nur das Lotterleben, das ihm fehlte.

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