: Auschwitz ist darstellbar
Muss jeder Versuch, das Grauen des Holocaust darzustellen, scheitern? Keineswegs. Georges Didi-Huberman widerlegt in seiner Bildtheorie eindrucksvoll die Argumente von bilderfeindlichen Ästheten wie Claude Lanzmann
VON MICHA BRUMLIK
Das Leiden und die Verbrechen in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern sind unvorstellbar und daher auch undarstellbar. Das ist das geläufige Axiom, ja geradezu Dogma nicht nur der deutschen Erinnerungskultur. Denn jeder Versuch, das Grauen darzustellen, verharmlose es zugleich, jeder Versuch, es zu verstehen, mindere die Würde der Opfer. Dies scheint inzwischen so selbstverständlich, dass man die grundlegende Paradoxie dieser Erinnerungs- und Gedenkkultur gar nicht mehr wahrnimmt: Je mehr gezeigt, bebildert, geredet und analysiert wird, umso mehr wird zugleich beschworen, dass all dies letztlich sinnlos oder doch zumindest ganz und gar unzulänglich ist. Kaum noch in Betracht gezogen wird, dass Axiom und Dogma womöglich falsch sein könnten.
Umso erhellender dürfte daher auch für den deutschen Gedenkdiskurs eine bereits vor Jahren in Frankreich geführte Debatte sein, die jetzt aus der Sicht eines der Teilnehmer auf Deutsch nachlesbar ist. Im Jahr 2000 fand in Paris eine Ausstellung unter dem Titel „Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d'extermination nazis (1933–1999)“ statt. Zu ihr hat der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman einen Beitrag über jene vier Fotografien verfasst, die ohnehin dem Tode geweihte Mitglieder eines Sonderkommandos in Birkenau aufnahmen, um so der Welt das ganze Ausmaß des Leidens und des Grauens zu beweisen. Die aus dem Inneren einer Gaskammer heraus gemachten Bilder zeigen, wie Mitglieder eines Sonderkommandos nackte Leichen verbrennen und wie eine Gruppe nackter Frauen zur Gaskammer getrieben wird.
Diese Aufnahmen sind einerseits minder aussagekräftig als die Berichte einzelner Überlebender und gleichwohl, so Didi-Huberman, „unendlich wertvoll“, weil sie über den bildlichen Beweis des Grauens hinaus vor allem den Willen der Opfer zum Zeugnis belegen. Daraus zieht Didi-Huberman eine weitreichende ästhetisch-ethische Konsequenz, die ihm wütende, ja geradezu hasserfüllte Reaktionen eingetragen hat. Müsse man aus alldem, so seine rhetorische Frage, „ein weiteres Mal hervorheben, dass Auschwitz undarstellbar ist?“ Nein, so beantwortet Didi-Huberman die selbst gestellte Frage in provokativer Offenheit: „Gerade das Gegenteil ist der Fall: Auschwitz ist ausschließlich vorstellbar.“
Diese Überzeugung führte zu Erwiderungen in der einst von Jean-Paul Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes. Der Psychoanalytiker Gérard Wajcman und die Autorin Élisabeth Pagnoux hängten dem Autor nicht weniger als eine pervers fetischistische Geisteshaltung, ja eine christliche, götzendienerische Liebe zu den Abbildern sowie – tatsächlich – eine gefährliche Nähe zu antisemitischen Einstellungen an. Derselbe Antrieb, der Didi-Huberman die Bilder hochschätzen lasse, so Wajcman, „ist es vermutlich auch, der dazu führt, einen Staat Israel auf die Situation der Palästinenser zu reduzieren, seine Verfechter schlimmer als die Nazis“ zu finden und die Palästinenser als „die wahren Juden unserer Zeit anzusehen“.
Bei diesen Anwürfen wissen sich Wajcman und Pagnoux mit dem Regisseur Claude Lanzmann im Bunde, und zwar nicht nur wegen dessen grandiosen Films „Shoah“, der auf Dokumentaraufnahmen verzichtet. In einem Interview gab Lanzmann tatsächlich zu Protokoll: Hätte es filmisches Material über die Vergasung gegeben – er hätte es auf keinen Fall gezeigt, ja, er hätte es sogar zerstört: „Ich kann nicht sagen, warum. Es versteht sich von selbst.“ Lanzmann argumentiert also nicht etwa mit der Würde der Opfer, die durch eine solche Abbildung in ihrem Andenken ein weiteres Mal entwürdigt werden, sondern schlicht dogmatisch. Er ist ebenso wenig wie seine Adepten Wajcman und Pagnoux in der Lage, einen trennscharfen Unterschied zwischen materialen Abbildungen und den Bildern zu machen, die durch die Erzählung im Kopf des Betrachters entstehen.
Didi-Huberman gelingt eine neue Konzeption des Bildes, indem er nicht nur die schwächsten Argumente seiner Gegner widerlegt, sondern sorgfältig auch den möglichen Stärken einer Theorie des Bilderverbots nachgeht. Er geht damit einen großen Schritt etwa über Adornos immer wieder bemühtes Diktum hinaus: „Das Recht des Bildes wird gewahrt nur durch die strenge Befolgung seines Verbots.“ Ein Bild kann nach Didi-Huberman als „Riss“ in einer ohnehin stets konstruierten Wirklichkeit verstanden werden, als eine widersprüchliche Einheit von Fetisch und Fakt, von Schönheit und Unerträglichkeit, von Tröstlichem und Untröstlichem, die herkömmliche Sehgewohnheiten aufreißt. Bilder, also auch Fotografien sind demnach „weder reine Illusion noch stellen sie die gesamte Wahrheit dar, sondern bezeichnen jenen dialektischen Wechsel, der den Schleier und sein Zerreißen einschließt“.
Didi-Hubermans eindringliche Bildtheorie, die sich auf Walter Benjamin und Georges Bataille ebenso bezieht wie auf Hitchcock und Godard, führt am Ende zu einer überzeugenden und vollständigen Widerlegung einer bilderfeindlichen und somit selbstwidersprüchlichen Ästhetik und Historiografie. Diese auch den deutschen Gedenkdiskurs über Jahre dominierende Ästhetik beruht auf drei ungeprüften, dogmatischen Übertreibungen: 1. Wenn man etwas über die Schoah wissen will, muss man sich der Bilder entledigen. 2. Wenn man ein seriöses Andenken der Schoah bewahren will, müssen alle Bilder außer Kraft gesetzt werden. Und 3. Sobald das Bild in Erscheinung tritt, verschwindet die Ethik. Es sind genau diese drei Übertreibungen, die seit Didi-Hubermans Analyse von nun an als widerlegt gelten können.
Vollständiger könnte der Nachweis nicht sein, dass diese Überzeugungen entweder wie im Falle Lanzmanns grundlos sind oder auf einer unreflektierten Übertragung theologischer Kategorien in die Sphäre archivalischer Erinnerung beruhen. Die dogmatischen Auseinandersetzungen der späten Antike können nicht unbesehen als letzte Instanz in ästhetischen Fragen der Gegenwart gelten. Damit ist nun keineswegs jeder Kitsch im Stile der von Guido Knopp produzierten „Dokumentarfilme“ über den „Holokaust“ gerechtfertigt. Es wird aber nachgewiesen, dass eine totalisierende und theologisierende Ästhetik dem Gedenken an die Opfer dieses singulären Verbrechens nicht gerecht wird. Es dürfte schwerfallen, jenen Verzweifelten, die aus dem Willen der Zeugenschaft heraus Vergasungen und Verbrennungen von Menschen fotografisch dokumentieren wollten, ein Missverständnis ästhetisch-ethischer Praxis nachzuweisen.
Georges Didi-Huberman: „Bilder trotz allem“. Aus dem Französischen von Peter Geimer, Wilhelm Fink Verlag, München 2007, 256 Seiten, 29,90 Euro