Aus taz FUTURZWEI: Lena, Paul, Larana und Benno
Die Hipster, die Engagierten, die Rechtsrebellen, die Normalos: Annäherungen an Twentysomethings, die jetzt auch schon 30 sind.
Die Hipster, so
Angenommen, er heißt Paul. Wohnt in einer Siebener-WG in Neukölln, seit sechs Jahren. Mittlerweile ist er der Älteste, Anfang dreißig, dauernd kommen Jüngere nach. Sein Zimmer hat Stil, aber nicht zu viel, er hält es unauffällig, weiße Vorhänge, weiße Wände; er räumt die Bücher weg, die er nicht braucht. Vor Kurzem hat er sich eine Pflanze besorgt. Nicht direkt aus Liebe zu ihr. Eher, weil Pflanzen in Berlin gerade „in“ werden. Sie hängen dort in coolen Cafés von der Decke, und eine hängt jetzt in Pauls Zimmer.
Paul sagt oft „quasi“, „irgendwie“ und „sozusagen“. Am häufigsten sagt er „so“. „So’n Freund von mir“, „so’ne Ausstellung“, „so’n Festival“; das Unbestimmte seiner Sprache wie ein Spiegel seines Selbst. Bestimmtheit behagt ihm nicht, er hat keine Ruhe für sie – Paul ist ständig unterwegs. Nicht im Urlaub, so auf Reisen. Auf Reisen verfolgt er Projekte, und das meist in Ländern, die viele nur vom Hörensagen kennen, Armenien, Mazedonien. Er will das Zerschossene, Rauheit, Schmerz. Er sucht dort ein Gefühl.
Paul sucht sein Gefühl nicht bei sich, er hat nicht so den Plan, wie das geht. Nachts sitzt er an Theken und diskutiert politisch, über Israel und das Kopftuch. Er sitzt lange, der Gin beflügelt ihn. Paul will nie, dass es endet, Paul will weiterfliegen, er legt mit Speed nach. Mit Kokain nur selten, Koks ist teuer – und sein Geld momentan mehr so knapp. Paul hat einen Job, den man sich leisten können muss, im Grunde auch der: politisch. Auf zurückhaltende, die kreative Art. Paul zeigt, wofür sich andere engagieren. Missstände. Nöte. Vergessene.
Wenn Paul Geburtstag feiert, kommen vierzig Leute.
Sie stehen dann auf dem WG-Balkon und in der WG-Küche und rauchen und sind links. Sie sind sich einig, dass man woanders nicht wohnen kann. Paul auch, er ist offen; aus Neukölln wegzuziehen kann er sich nicht vorstellen. In eine andere WG dagegen – klar. Im Kiez hat er sich schon umgeguckt, die Mietpreise sind horrend. „Un-fucking-fassbar“, sagt er. Vielleicht bleibt er doch.
Wenn sein Kater nachlässt, gegen Nachmittag, mahlt sich Paul Kaffee und legt sich noch mal ins Bett. Nicht zu lange, sonst kommen die Gedanken, und nach dem Aufwachen wehrt er die schlecht ab. Paul liegt dann schweigend da, eigentlich weiß er auch nicht, wie er so geworden ist. Nein, anders: Er ahnt es, er spricht es nicht aus. Die Worte sind ihm zu groß.
Und im Prinzip hatte er es ja gut. Die Eltern haben ihn versorgt und ihm alle Freiheiten gelassen. „Studier du, was du willst“, ihre Freiheiten hallen in ihm nach. Pauls Familiengeschichte ist eine akademische, um finanziellen Halt musste er nicht kämpfen. „Mach du, was dich glücklich macht!“
Paul googelt seinen Namen und klickt auf seine Bilder.
Er spürt einen Hunger, der sich nicht stillen lässt. Isst Hass-Avocados und Brot vom echten Bäcker, die deutschen Tomaten sind ihm nicht reif genug. Kauft Kleider bei COS, obwohl die alle tragen, eine Uniform – was ihn sozusagen nervt, aber er mag die schlichten Schnitte, die knöchellangen Stoffhosen. Bauchtaschen. Ihre Farben, Schwarz und Blau. Paul lindert Sehnsucht mit Anerkennung, im Stillen plant er seinen Erfolg. „Ich werde immer bekannter“, sagt er, so, dass es ironisch klingt. Eventuell macht er noch einen Master im Ausland.
Wenn Paul eine Frau trifft, die ihn berührt, für ihn „so interessant ist“, „so seit Langem“, dann meint er es ernst und geht ihr aus dem Weg. Er ist dann hin- und hergerissen, weil er nur von der Einen, Richtigen geliebt werden will, jedoch die Beziehungsmodelle seiner vielen Freunde kennt: offen, polyamor. Was heißt das überhaupt: Bindung?
Es kommt ihm dann vor, als wolle ein Mensch sein Geheimnis lüften. Ihm Bürgerlichkeit unterstellen, CDU-Nähe, einen Hang zur Beständigkeit. Als wolle jemand ausgraben, was Paul sich am dringendsten wünscht. Paul bucht die nächste Reise und schläft mit der nächsten Frau.
Er häuft so seine Mantras an. Sagt: „Ich hab einfach Angst, was zu verpassen, so.“ Sagt: „Ich hab halt Angst, meine Freiheit aufzugeben, so.“ Paul glaubt fast, was er sagt. Er denkt fast, Angst sei cool.
Paul sagt, die schlimmsten Tage im Jahr – „die allerschlimmsten, echt“ – sind für ihn die an Weihnachten. Da kann er bloß in seinem Dorf sitzen und zusehen, wie seine Eltern das Beste für ihn wollen.
Da wird er bekocht.
Da ist so viel Zeit.
Die Engagierten
Larana kommt zu spät zum Treffpunkt am Marktplatz, natürlich. Die Sitzung im AStA hat sich gezogen, länger als erwartet. Es ging um das Line-up für das Musikprogramm und darum, diesmal ebenso viele weibliche wie männliche Musiker zu engagieren. Wer hätte gedacht, dass sich dagegen jemand sperren könnte? Der RCDS konnte, klar. Larana war wütend geworden und auch laut. Fühlte sich beides gut an, wie auf Droge. Nun ist die Entscheidung vertagt worden, immerhin.
Während sie ihr Fahrrad an das Absperrgitter kettet, zittern ihre Hände noch immer vor rechtschaffenem Zorn. Sie ist sich der Blicke der Leute in den Cafés bewusst. Leute, die dort einfach nur sitzen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Als ob nichts wäre. Als ob man nichts tun könnte. Wie kann man nur, fragt sich Larana wieder und wieder, so einverstanden sein?
Das warme Kopfsteinpflaster unter ihren nackten Füßen fühlt sich gut an. Larana geht barfuß, sobald es das Wetter erlaubt. So spürt sie mehr von der Welt, ganz einfach. Das Warme und Weiche, aber auch das Kalte, Spitze, Scharfe. Eigentlich sollten alle Menschen ohne Schuhe durch die Welt gehen. Dann würden sie mal sehen, im Guten wie im Schlechten.
Alt gegen Jung. Politik und Gesellschaft sind altendominiert, Menschen unter 35 werden oft nicht ernst genommen. Die neue Ausgabe von taz FUTURZWEI widmet sich der vernachlässigten Seite des tabuisierten Konfliktes. Was wollen die Twentysomethings? Wer sind diese jungen Leute, wie sind sie drauf, welche Zukunftsperspektiven sehen sie – und wofür kämpfen sie? Mit Aline Abboud, Julian Pahlke, Diana Kinnert, Tilo Jung, Sophie Passmann, Ali Can und vielen weiteren.
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Ihre Gruppe hat sich um den Brunnen versammelt. Robbie ist schon da und ihre Mitbewohnerin Svenja auch, ein paar finstere Trotzkisten und die Grüne Jugend. Was wollen die Sojamilchgesichter denn schon wieder hier? Egal. Je mehr, desto besser.
Larana zupft an ihrem „Refugees Welcome!“-T-Shirt, damit man das Tattoo auf ihrem Oberarm nicht sieht, ein aztekisches Sonnenzeichen. Svenja hat ihr neulich mit gespielter Strenge erklärt, dass das eine Form von kultureller Aneignung ist und „gar nicht geht“. Aber dann hat Svenja an ihrem argentinischen Mate geschlürft, schuldbewusst geguckt und gelacht, wie sie immer lacht. Larana hat den Verdacht, dass Svenja das alles hier nicht so ernst nimmt, weil sie aus Hamburg kommt, Schanzenviertel und so. Mainz muss ihr wie ein Sandkasten erscheinen, und das ärgert Larana. Das ist kein Spiel, das ist ein Kampf. Überall.
Robbie sieht gut aus, wie er den Klapptisch für die Unterschriften aufstellt. So ernst und neuerdings auch streng, mit seinen schwarz lackierten Fingernägeln und dem Undercut. Robbie liest Gramsci und Butler. Sein Vater ist Notar in Frankfurt am Main und hat eine große Bibliothek. Seit Wochen arbeitet Robbie an einem Referat über Julius Evola und trägt eine zerfledderte Ausgabe von „Heidnischer Imperialismus“ mit sich herum. Larana findet es nicht gut, dass so ein rechter Dreck hier offen herumliegt. Aber Robbie meint, man müsse wissen, wie die Identitären ticken.
„Die ticken nicht richtig!“, sagt Svenja und lacht und schaut dabei Larana an, die sich ein wenig fürchtet, dass die Bullen das auf sich beziehen könnten.
Die stehen stumpf und stämmig in einigem Abstand und überwachen die angemeldete Demonstration, schwer gepanzert, als würde hier und heute schon die Revolution ausbrechen. Schwitzen die nicht unter ihren Exoskeletten aus Kevlar? Wie Roboter sehen die aus. Stereotype auf zwei Beinen. Robocops. Seufzend fährt Larana sich durch die grau gefärbten Haare und denkt an ihre Mutter und deren Sammlung abgerissener Mercedessterne, in einem Kasten unterm Bett, zu Hause, in Ehren gehalten wie die Medaillen von Opa aus dem Krieg.
Mama, denkt Larana, hat immer alles richtig gemacht. Das Greenpeace-Magazin abonniert und gegen den Doppelbeschluss demonstriert, sich von genau solchen Robocops von den Schienen im Wendland tragen lassen vor dreißig Jahren schon. Aufgehört, sich die Beine zu rasieren, sich von Papa alles erklären zu lassen. Erst gestern hat Larana mit ihrer Mutter gesprochen, über Skype. Sie sitzt gerade in Valletta und wartet auf ein Flüchtlingsboot, während Papa mit seiner neuen Freundin im Cabrio durch Italien fährt.
Robbie steht jetzt auf einer Bierkiste und liest leise und intensiv seine schlaue Rede vom Smartphone ab. Gewalt gegen Frauen und Transgender ist ein strukturelles Problem, sagt er und schafft es in Worten wie „PolitikerInnen“ das Binnen-I hörbar auszusprechen. Das ist toll und wichtig, findet Larana. Die Leute in den Cafés schauen weiter in die Sonne.
Später liegt Larana neben Svenja im Bett. Svenja schläft, Larana streicht ihr zärtlich über die geriffelten Narben am Unterarm, vom Ritzen früher. Larana heißt eigentlich Lena. Larana ist Hindi und bedeutet „die Kämpfende“. Das passt besser, dachte sie irgendwann. Und seitdem ist sie Larana. Noch lieber, denkt sie in intimen Momenten wie diesen, wenn sie in der Dunkelheit tief in sich hineinlauscht, noch lieber wäre sie Leander.
Die Normalos
Sie nennen einander „Schatz“ – und warum auch nicht? Micha ist lange vor Lena wach, wenn sie ihre Spätschicht hat. Wenn sie erst am Nachmittag hinterm Band sitzen und dort die Strichcodes finden muss. Vom Olivenöl, von Salz und Bananen; die Produkte schwemmen vor ihr an wie ein buntes Meer: Milchtüten, Teelichter, Tampons. Himbeeren und Servietten, Snickers, Möbelreiniger. Jever, Zahnseide, Fisherman’s. Gut & Günstig. Biep, biep.
Micha kennt seine Lena. Er weiß, dass ihr der Ton vom Band im Kopf dröhnt. Nach der Schicht ist es ihr, als würde ein Zwerg gegen ihre Schädeldecke boxen – biepbiepbiep –, von innen, hinter den Schläfen. Micha macht ihr deshalb den Morgen schön. Er stellt ihr den Frühstückssaft hin und kocht zwei mittelweiche Eier, fünf und sechs Minuten. Über Lenas stülpt er den Hasen-Eierwärmer.
Er steckt sein blaues Kurzarmhemd in die Hose, weil das Pflicht ist bei Saturn. Micha arbeitet dort in der Elektroabteilung, er verkauft Monitore und Festplatten. Er kennt seine Speicherkapazitäten und Formfaktoren, 32 Gigabyte. 2,5 Zoll. Er kennt die Tonlage, in der man mit Saturn-Kunden spricht. Vorsichtig, nicht zu hoch. „Kann ich Ihnen helfen?“
Im Bus unterwegs zur Arbeit schickt er Lena eine What’s App: „Schönen Tag Schatz :-* ild„.
Lena und er sind seit Langem ein Paar, und doch erinnert Micha den Anfang genau: wie er sie auf dem Schulhof gesehen hat, 2003. Die blonden Haare, ihr Gang. Er stand in der Pause mit den Kumpels rum – unauffällig, dachte er. Aber später hat ihm Lena erzählt, dass sie seine Blicke gesehen hat. „Und die Tamara auch!“
Micha und Lena erzählen sich ihre Geschichte oft. „Stimmt ja gar nicht!“, sagt irgendwann Micha, und Lena sagt: „Doohooch!“ Anschließend lachen sie, als läge in einem verlorenen Geheimnis ein Witz.
Micha und Lena: Das erste Mal haben sie sich zu „I Got 5 On It“ geküsst.
Das erste Mal bei Ikea waren sie, als Lena gerade die Edeka-Stelle angenommen hatte.
Den Antrag hat er ihr auf Kos gemacht. Abends im Hotel – Vorsaison. Lena hatte nicht damit gerechnet, weil sie fast jedes Jahr auf Kos im Urlaub sind. Oder hatte sie? Lena jedenfalls trug ein enges Kleid und Micha hat gekniet, im Hintergrund schimmerte der Swimmingpool türkis. Die Bodenfliesen formten den Name ihres Hotels, COSTA ANGELA RESORT ***.
Lena hat dann Michas Ring fotografiert und die Fotos an ihre Familiengruppe geschickt. Eines hat sie auf Instagram gepostet und „so happy!!“ darunter geschrieben, und angelheart89 hat sofort verstanden und kommentiert: „Traumpaar! GLÜCKWUNSCH <3!!!“.< p="">
Micha hat eine Flasche Sekt bestellt und Lena noch eine Weile zugesehen, wie sie das Smartphone auf sich gerichtet und die Strähnen entlang ihrer Wangen glattgestrichen hat – weiterhin auf der Suche nach einer Komposition für den Ring und ihre Hand und ihr Gesicht. Geredet haben sie nicht viel. Und warum auch? Es war ja alles gesagt.
Während Micha jetzt die Rolltreppe im Einkaufscenter zu Saturn hochfährt, schaut er auf sein Handy und liest Lenas Nachricht: „Du auch, ild.“
In Etage vier schaut er im Vorbeigehen auf die Zeitungsständer des Kiosks. „Rettungsschiffe schicken oder nicht?“, liest er vorn auf der Bild und denkt, dass sie was machen müssten, Lena und er. Für die Flüchtlinge Kleider sammeln. Oder spenden. Sie haben schließlich die Mittel. Er will das Lena später sagen.
Aber dann wird Micha zu Bildschirmauflösungen befragt. Micha soll wissender Roboter sein, in Pixeln und Marken antworten, Samsung, Philips, sein Namensschild verrutscht. Zu Mittag isst Micha beim Bäcker im ersten UG.
Im Bus nach Hause rempeln ihn zwei Jungs an.
Im Supermarkt ist die Schlange lang.
Micha kommt in die Wohnung und schwitzt. Er macht Geschnetzeltes und füllt Lenas Portion in eine Box. „Bin halb elf zurück bis später :) kuss“, schreibt sie. Und dann spült Micha ab und vergleicht online Preise für die Wickelkommode, die sie bald brauchen, bis er vom Surfen müde wird.
Die Rechtsrebellen
Auf dem Weg zur Versammlung fahren sie auch an Philippsburg vorbei. Bisher hat Benno von Stuttgart bis Bruchsal nur über Audi geredet. Warum deutsche Dieseltechnologie überlegen sei, die Amerikaner diesen „angeblichen Skandal“ nur für die heimische Wirtschaft inszeniert hätten und sein Vater ihm für diese Tour nicht den Q7 leihen wollte, weshalb sie mit dem Q5 der Mutter unterwegs waren. „Klassisches Frauenauto halt“, hatte Benno geschnaubt und kurz die Hand vom Schaltknüppel genommen, um Sarahs Knie zu tätscheln, die vom Smartphone aufblicke und ihn anlächelte, schon okay.
Jetzt, mit den weißen Kühltürmen des stillgelegten Atomkraftwerks von Philippsburg im Gegenlicht der Morgensonne, redet Benno über die Energiewende, was für ein Irrsinn das sei, was das den Steuerzahler koste: „Dann werden wir abhängig von Atomstrom aus Frankreich!“, ruft Benno über die Schulter: „Und wer könnte daran ein Interesse haben, hm? Wer?“
Gunnar sinkt ein wenig tiefer in das duftende Leder seines Sitzes im Fond. Vermutlich hat George Soros ein Interesse daran. Oder das linke Establishment? Benno redet verdammt viel, das hat er von seinem Vater, das viele Reden. Und die Meinungen auch.
Ist okay, denkt Gunnar, Benno hat den Durchblick. Muss man auch mal anerkennen. Er ist in der Verbindung der erste gewesen mit Schmiss. Er hat einen Vollbart darüber wachsen lassen. Er hat sein BWL-Studium beinahe schon abgeschlossen. Er ist mit Sarah verlobt. Er hat schon zwei Immobilien verkauft, im Auftrag seines Vaters, beide am Lago Maggiore. Dort wird er sich zur Ruhe setzen: „Mit vierzig! Alles schon geplant. Hauptsache weg, bevor dieses Land endgültig den Bach runtergeht …“
Gunnar beneidet Benno. Für den Durchblick, den Lago Maggiore, Sarah und die Meinungen. Sein Vater ist nicht Makler, sondern Förster. Weshalb Benno auch das Geschwätz der körnerfressenden Klassensprecherin auf dem Gymnasium nicht aushalten konnte. Silke, die sich sofort mit dem Sozialkundelehrer geduzt hat. Wie sie ihn angeschaut hatten, alle beide, die ganze Clique, als er damals, bei dieser Ausstellung gegen das Insektensterben, mal eben erklärt hatte, warum das Bullshit ist mit diesem Insektensterben.
Keine Ahnung, alle miteinander, wie sie sich beim verganen Gemüsegrillen in ihren naturnahen Gärten über Photo, Voltaik, Lithium oder Ionen unterhalten, während im Hintergrund kubanischer Jazz läuft und später Degenhardt oder Branduardi.
Nein, hier gehörte Gunnar nie dazu. Sollen sie doch Böll lesen und Hesse, die Bescheidwisser. Gunnar hält sich an „Das Heerlager der Heiligen“, Ernst Jünger und Ernst Moritz Arndt. Die sind nicht lieb und nett und „offen für alles“. Steht in keinem Lehrplan, weil es der herrschenden Ideologie zuwider läuft. Wer offen ist für alles, denkt Gunnar, der kann nicht mehr ganz dicht sein.
Sollen sie doch mit Davidsternchen und Traumfängern rumlaufen. Gunnar geht in die Kirche. Sollen sie doch nach Berlin gehen, zum Studieren und Sichfinden, was immer das sein mag. Gunnar hat sich nie gesucht. Gunnar weiß, was er ist, woher er kommt und wohin er geht. Studiert Verfahrenstechnik in Stuttgart und Fährten mit seinem Vater, auf der Alp. Dort ändert sich nichts, bis auf die Verspargelung der Landschaft mit Windrädern.
Gunnar will, dass alles bleibt, wie es ist. Und dass jeder bleibt, wo er ist. Er kann nicht verstehen, dass manche Leute so einverstanden sind damit, wie es derzeit läuft – nämlich schief. Da muss man etwas tun, notfalls beharren wie die dreihundert Spartaner bei den Thermopylen. This! Is! Heimat!
Sarah schließt ihr Smartphone an die Anlage an, weil sie SWR3 „nicht mehr ertragen kann“. Es läuft deutscher Rap, Kollegah oder so. Gunnar hört nicht richtig hin, er mag Schubert lieber. Amerikanischer Mist, dieser Hip-Hop. Trotzdem gefällt ihm dieses Breitbeinige, Provozierende in der Stimme. Nicht diese gutmenschliche Innerlichkeitsscheiße immer. Benno ist es, der die Musik etwas leiser dreht: „Schon krass …“, sagt er, aber Sarah nickt heftig: „Eben! Eben!“ Gunnar seufzt. Gar so helle ist sie nicht, die gute Sarah.
Auf der A65 geraten sie dann doch noch in einen Stau. Benno flucht. So schaffen sie es nicht mehr rechtzeitig zur Versammlung. Gunnar schaut aus dem Fenster und erkennt, zwischen den Hügeln der Haardt, die sandsteinroten Mauern des Hambacher Schlosses, 1832. Gunnar lächelt und denkt, es schläft ein Lied in allen Dingen. Kollegah rappt: „Guck dich an, du studierst Sozialpädagogik / Ich krieg' Spontanerektion mit Oralsex belohnt, Kid / Presse meinen Dick deiner Mutter in die Fresse / Frag‘ sie: Wer ist der Beste?/ Und sie sagt: Du bist der Beste!“
Später, auf der Versammlung in Mainz, sieht Gunnar ein Mädchen mit grau gefärbten Haaren. Die gefällt ihm. Sie zeigt ihm den Mittelfinger.
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