Aus einem ungültigen Land

Der westdeutsche Autor Martin Groß schrieb einen Briefroman über das letzte Jahr der DDR  ■ Von Lutz Engelke

Der westdeutsche Autor Martin Groß hat 1990 in der DDR gelebt, um die Absurditäten der deutschen Wiedervereinigung aus nächster Nähe beobachten und beschreiben zu können. Dabei entstand ein Buch, das Gattungsgrenzen überschreitet, indem es dokumentarisches Material in einem Briefroman entfaltet. Buchhändlern, Redakteuren, Kritikern und Lesern bleibt es nun überlassen, ob sie „Das letzte Jahr“ als Sachbuch oder als Roman verkaufen, verreißen, empfehlen, lesen sollen. So etwas tut man nicht; so läßt man seine Klientel doch nicht im Stich! Auch sonst verstößt Martin Groß gegen einige Gepflogenheiten: Er verzichtet darauf, den Menschen eine Biographie und den Ereignissen eine Erklärung anzuhängen. Er gibt keine Stories, sondern hält sich ganz und gar an die Beobachtung und an etwas, was man den Traumgehalt einer Szene, einer Passage nennen könnte. Bereits der erste Brief vom 5. Januar 1990 führt den Ton, das Zeitmaß und die Position des Ich-Erzählers vor:

„Ich gehe in diesem Land herum wie in einem stillgelegten Bahnhof. Unter dem Glasgewölbe hindurch, an den Fahrplänen und Schaltern vorbei, viel Staub, viel Licht und viel Stille. (...) Was ich jetzt sehe, ist nicht mehr gültig – oder höchstens noch eine Weile. Unangefochten geht man umher, das Geld, das man ausgibt, die Gebote, die man übertritt, das alles hat nichts mehr zu sagen, es geschieht nur scheinbar. Nur man selbst gehört zur Wirklichkeit und zur Zukunft. Aber ich weiß, auch das ist nur Schein.“

Martin Groß hört auf die unbewußten Schwingungen und hört seine Begegnungen metaphorisch; plötzlich erweist sich die Literatur als eine kompetente Stimme im Gespräch über die jüngste deutsche Geschichte. Sie unternimmt keinen Versuch, uns die Ereignisse nahezubringen, besteht vielmehr auf einem fremden Blick. „Das letzte Jahr“ beschreibt unprätentiös, schnörkellos bis zur Grenze des Absurden ein Raritätenkabinett aus Personen und Situationen, am Rande und im Moment des Zerfalls eines ganzen Staates. Groß läßt seinen anonymen Briefliteraten aus dem Westen, im Gegensatz zu vielen anderen in dieser Zeit, ohne politische Absichten oder wilde Karriereträume durchs Land ziehen. Er hat vielmehr ganz im Sinne Ulrichs in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ nichts weiter vor, als sich an ein Fenster zu stellen und seine Augenmuskeln spielen zu lassen. „Im Grunde genommen habe ich doch nur ein paar romantische Fragen, so als könnte ich hier endlich erfahren, wie es zugeht, wenn ein Staat zusammenbricht; als könnte ich dabeisein wenn sich die Haltlosigkeit zeigt, über der das Gesetz errichtet ist, wie die Macht nach Atem ringt und dabei die Augen schließt.“

Dabei ist ein Patchwork aus Erinnerungen und Dokumenten entstanden, in dem man den Prozeß einer Wahrnehmungsveränderung verfolgen kann. Im Brief vom 29. Januar begibt sich Groß' Brieferzähler noch einmal mit einem wieder aufgetauchten Onkel aus Dresden an den Ort der großen Montagsdemonstrationen und zum Endbahnhof der DDR-Geschichte: zum „Wendebahnhof Dresden“. Der Onkel erzählt von dem Tag, als Genscher in Prag das Startzeichen für die Züge gab und man das Echo bis nach Dresden hören konnte. Doch sind Tonfall und Inhalt seiner Erzählung eher enttäuschend. Eine Revolution soll hier also stattgefunden haben? Tja, sowas. – Am Abend dann wieder ein Brief: „Vermutlich werde ich mich von den großen Begriffen verabschieden müssen, Bastille, Winterpalais und so weiter. Offensichtlich weiß im entscheidenden Augenblick keiner, was er da eigentlich tut. Ja, man weiß nicht einmal, daß dies die Entscheidung ist; das liest man dann hinterher in der Presse. Oder noch später in den Geschichtsbüchern.“

Der Spurensucher in Groß' Briefen berichtet natürlich auch von Ereignissen, die man durch die Medien bereits zu kennen glaubt, doch ist seine Perspektive eine völlig andere. So sitzt er zum Beispiel in der Wahlnacht an den Biertischen und hört den Spekulanten zu – den Währungsbetrügern, den eiligen Karrieristen: „Einen Coup landen, einen Fang machen, mit einem Schlag reich werden. Mit einem Schlag ein anderer Mann sein. So, als könnte man heute das eigene Leben zurückgeben und ein neues erhalten. Plötzlich scheint einem das Leben, das man immer geführt hat, gar nicht zu gehören. Man hat sich lediglich eine Weile mit einem offensichtlich unpassenden Exemplar herumgeplagt. (...) Jetzt, beim Zusammenbruch dieses Systems, ereignet sich eine unkontrollierte Kettenreaktion des Schicksals, ein ganzes wiedervereintes Volk experimentiert mit dem Ausstieg aus jeder Art von Kausalität. Das klingt fast so, als seien wir ein Volk von Abenteurern. Aber nein: nur von Spekulanten. Und darum findet der plötzliche Aufbruch vor allem in München und Hannover oder Paderborn statt; dort schmiedet man eilig Pläne, bringt Verbindungen ins Spiel, nutzt überraschende Chancen, und es sieht ganz danach aus, als habe die Revolution im Osten vor allem den Westen befreit.“ Der Briefschreiber wird so zu einem unfreiwilligen Dokumentaristen, einem Kommentator der Einheit. Er spielt mit den Formen, läßt das Randpersonal dieser Zeit auf- und wieder abtreten, denkt sich in die Zungenspitzen und Ohrmuscheln der Menschen hinein, die er täglich trifft und steht doch nur die ganze Zeit am Fenster.

Am Ende, nach den Wahlen und vollzogener Einheit im Brief vom 20.Januar 91, spricht eine unbrauchbar gewordene Zeitungsredakteurin den Schlußmonolog zu einer aufgebrochenen und verworfenen Zeit. „Irgendwie sehe ich mir diese dreißig Jahre an wie einen fremden Film, davon kann ich nichts mehr brauchen, es bedeutet mir auch alles nichts mehr. Eigentlich hat ja die ganze Vergangenheit ihren Sinn verloren.“

„Das letzte Jahr“ bietet Enthüllungen anderer Art. Hier ist ein genauer Beobachter am Werk, ein subjektiver Chronist, der sich mit Kommentaren und Interpretationen zurückhält, statt dessen Details, Gesten und Gesichter für sich sprechen läßt. Entstanden ist ein Buch, das die unscheinbare Wirklichkeit einer geschichtlichen Umwälzung präsentiert, das folglich einen geduldigen und aufmerksamen Leser verlangt. Von heroischen Aktionen ist nirgends die Rede, eher von einer Revolution, die das „Volk“ erlebt als eine elende Warterei auf die neue Währung, die neuen Gesetze, die neuen Waren. Tag für Tag notiert Groß Illusionen, Enttäuschungen und Gerüchte, in denen sich das „historische Jahr“ spiegelt. Indem der Platz der großen Politik leer bleibt, richtet sich der Blick auf den Rand des historischen Augenblicks. „Das letzte Jahr“ zeigt, daß Authentizität nichts mit Betroffenheit zu tun haben muß. Schon heute kommt einem vieles, was dieser Briefroman festhält, erstaunlich und unglaublich vor, als läge es bereits Jahrzehnte zurück. In zehn Jahren werden diese Aufzeichnungen ein Geschichtsbuch sein.

Martin Groß: „Das letzte Jahr“, Basisdruck Verlag 1992, 305 Seiten, 28DM.