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■ Aus dem Evangelium eines armen SündersSieben letzte Worte unterm Kreuz

Das Kreuz war immer da. Zu Hause im Herrgottswinkel hing es Tag und Nacht, eine Leiche war daran befestigt, aus Holz zwar, aber so realistisch mit Blut überströmt, daß ich meinen Vater, als er nach einem Sturz blutend hereinwankte, für den auferstandenen Leib Christi hielt. Furcht und Zittern vorm Korpus in der Schule; die Dornenkrone bohrte sich tief in den Kopf des Heilands. Rotwund die klaffende Seite beim Christus am Ortsrand, die Füße am Kruzifix in der Gnadenkapelle troffen nur so unter den Zimmermannsnägeln. Im religiösen Wahn wurde das „Haupt voll Blut und Wunden“ auch noch liebevoll angesungen.

Die Kirche ließ man damals noch im Dorf, und gleich neben der Kirche stand die Schule. Der Pfarrer ging nach der Frühmesse, bei der man ihm, von der verordneten Nüchternheit beinah ohnmächtig, assistiert hatte, vom Altar ab und verwandelte sich im blitzschnellen Kostümwechsel zum Religionslehrer. Wer nicht spurte vor seiner weltlichen Macht, wurde an den damals millimeterkurzen Schläfenhaaren gerupft, bis einem die Tränen hell aus den Augen sprangen. Besonders verstockte Seelen mußten die Hosen hochkrempeln und auf Holzscheiten vor dem Gekreuzigten knien, die Arme, damit es besonders weh tat, ausgebreitet in der imitatio Christi. Es war eine schöne Zeit.

Einmal wagte es das einzige evangelische Mädchen in der Klasse, während der katholischen Religionslehre, der sie beizuwohnen hatte, unter der Bank nach etwas zu suchen: Der geistliche Herr wurde bei soviel Heidentum zum Cherub mit dem Flammenschwert, das Jüngste Gericht trat eilends zum abgekürzten Strafverfahren zusammen, das arme Mädchen wurde als protestantische Schlampe abgekanzelt und schließlich gnadenhalber des Raumes verwiesen. Wie er glühte in seinem heiligen Eifer, der hochwürdige Herr Pfarrer!

Früh wurde der Soldat Christi eingezogen. Zur Erstkommunion gab es einen Anzug, ein paar Geschenke, eine Kerze, ein Gruppenfoto. Feierlich wurde gelobt, hinfort dem Satan zu widersagen. Bei der Firmung sagte man den Schwur womöglich noch feierlicher auf. Dafür wurde einem reicher Gotteslohn im Heere Christi; bei Beerdigungen, beim Flurumgang gegen Blitz und Hagelschlag, bei den alljährlichen Wallfahrten nach Andechs durfte ich das gesegnete Pilgerkreuz vorantragen.

Wir hielten nämlich noch auf Tradition: „In hoc signo vinces“ war dem Viertelkaiser Konstantin im Jahre des Heils 312 garantiert worden. Gehorsam ließ er die Zinke seinen Truppen aufs Hemd nähen und besiegte den Maxentius an der Milvischen Brücke. Von diesem Schlag hat sich die Welt nie wieder erholt. Helena, des Konstantin fromme Mutter, grub in Jerusalem das ziemlich echte Kreuz Christi aus und ließ eine Kirche darüber bauen; anschließend machte sich die alleinseligmachende katholische Staatsreligion mit Feuer und Schwert die Erde untertan, das liebe Kreuz immer flott voran.

Doch so leicht war er nicht zu stillen, der katholische Blutdurst. Was Jesus am Kreuz vergossen hat, soll siebenmal siebzigmal gekeltert werden unter Gläubigen wie Heiden, die man dafür zur Schlachtbank führte. Wieder winkte reicher Lohn: Weil ich als einziger aufzählen konnte, unter welchen Qualen die zwölf Apostel zu Tode gekommen waren, wurde ich ins Humanistische Gymnasium aufgenommen.

„Cum Deo!“ begann jeder Schultag, jedes Vokabelheft, und mit Gott wurde abends im Schlafsaal für sechzig furzende Pubertanten das Licht gelöscht. Am Brunnen im Hof erwürgte der kleine Herakles die beiden Giftschlangen, die ihn beinah noch in der Wiege getötet hätten. So beherzt, so tapfer, Soldaten Christi im Zeichen des Kreuzes, sollten auch wir dem Teufel und seinen Nachstellungen widerstehen.

In der sechsten Klasse im Gymnasium unterbrach der Lateinlehrer die Wiederholung der e-Konjugation für eine aktuelle Durchsage: „Buben, ihr habt doch alle das Ziel, Heilige zu werden!“ Hatten wir zwar nicht, aber plötzlich eine Perspektive. Der Leib war einem im Weg zu diesem Ziel, der ewigen Seligkeit, der Leib mußte leiden. Die Märtyrer hatten's vorgelitten, sich im Zeichen des Kreuzes Arme und Beine abhacken lassen, die Brüste absäbeln, sich mit Pfeilen durchbohren, häuten, in siedend Öl tauchen, rädern, vierteilen oder gleich das zage Herz herausreißen lassen. Viel, soviel Blut war geflossen zur höheren Ehre der Altäre, da konnten wir doch auch ein bißchen Blut schwitzen, Angst haben vor dem Höllenfeuer, der ewigen Verdammnis. Vernehmt ihr sie denn nicht, die Berufung ins heiligmäßige Leben?

Der heilige Bendikt zum Beispiel warf sich, wenn ihn die fleischliche Versuchung anwandelte, ins nächstbeste Dornengestrüpp und wälzte sich darin, bis er seines sündhaften Leibes nicht mehr inne war.

Wahlweise durften wir uns auch dem Hl. Aloysius von Gonzaga anempfehlen, der half einem schon durch die dunkle Nacht, und wenn nicht, stand der Pater draußen bereit, sorgte für die eine oder andere Abreibung, und wenn es hart auf hart kam, dann öffnete er unter der Kutte die Gürtelschnalle und zählte einem mit dem Leder drei, vier, fünf und mehr bar auf die Hand oder den Hintern. Die kleine Züchtigung, sie war so wertvoll wie ein ganzer Gottesdienst. Schöne Jugend.

Bei seiner Fahrt durch Deutschland entdeckt Hanns Zischler in Wim Wenders' Film „Im Lauf der Zeit“ ein Kruzifix, von dem nur ein nackter Christus auf der Stange übriggeblieben ist. „I've been double- crossed for the very last time and now I'm finally free“, zitiert Zischler den Kirchenlehrer Bob Dylan. Ab dafür. Willi Winkler

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