Aus "Le Monde diplomatique": Netzrebellen greifen an
Netzaktivisten stellen die Machenschaften von Konzernen, autoritären Regimen oder übergriffigen Polizeidienern bloß. Wer ist und was will Anonymous?
Anfang Januar traf es die Internetseite des globalen Stahlkonzerns ArcelorMittal in Belgien – das Unternehmen hatte ein Hüttenwerk in Lüttich geschlossen und die Arbeiter entlassen.
Im Dezember 2011 veröffentlichten mutmaßliche Anonymous-Hacker die privaten Daten von zehntausenden Kunden von Stratfor, einem US-amerikanischen Unternehmen für geopolitische Analysen, das von Kritikern auch als „Schatten-CIA“ bezeichnet wird; im August 2011 wurde die Seite des syrischen Verteidigungsministeriums gehackt; und im Juni war es die Website der spanischen Polizei, die kurz zuvor drei vermeintliche Anonymous-Aktivisten verhaftet hatte.
Darüber, wer sich hinter der Anonymous-Maske verbirgt, wird viel spekuliert: Sind es Elitehacker oder nur unbedarfte Jugendliche oder gar gefährliche Cyberterroristen? An allem könnte etwas dran sein, nur wird dabei das zentrale Merkmal des Gesamtphänomens glatt übersehen: Anonymous ist nämlich nicht eins, sondern viele. Hier agiert keine Gruppe oder ein Netzwerk, sondern ein Schwarm oder, noch präziser: mehrere Schwärme, die einander verstärken.
ist Dozent für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste und Herausgeber (mit Clemens Apprich) von „Vergessene Zukunft: Radikale Netzkulturen in Europa“, Bielefeld (transkript) 2012.
Im Grunde genommen ist Anonymous ein, wenn auch extremes Beispiel für die großen Protestbewegungen, die im Laufe des letzten Jahres in der arabischen Welt, Israel, Europa und in den USA entstanden sind. Die Unterschiede zwischen diesen neuen Bewegungen und den politischen Systemen, gegen die sie opponieren, werden insbesondere an ihren andersartigen Organisationsformen deutlich: Auf der einen Seite stehen hierarchische Strukturen, die auf dem Prinzip der Repräsentation basieren, indem durch Wahlen legitimierte Regierende im Namen aller entscheiden – mit der Einschränkung, dass diese Legitimität durch Korruption, Vetternwirtschaft und Missachtung der institutionalisierten Gewaltenteilung in vielen Fällen geschwächt wurde.
Auf der anderen Seite stehen Kollektive ohne Anführer an ihrer Spitze, die das Prinzip der Repräsentation ablehnen und die direkte Teilhabe an konkreten Projekten favorisieren. Hier basieren Entscheidungen über bestimmte Themen auf dem ad hoc getroffenen Konsens statt auf der nach bestimmten Regeln ermittelten Stimmenmehrheit. Das Verhalten dieses neuen Kollektivs entzieht sich der Logik der etablierten politischen Institutionen, deren Vertreter es gewohnt sind, auf konkrete Forderungen zu reagieren.
Einfach gesagt stellt der Schwarm eine vorübergehende Gemeinschaft aus unabhängigen Individuen dar, die sich mit simplen Mitteln und Regeln horizontal organisieren. „Die Komplexität entsteht aus dem meritokratischen Prinzip, das bestimmt, wie der Schwarm operiert und als Organismus handelt“, erklärt Rick Falkvinge, Mitbegründer der schwedischen Piratenpartei. „Weil die Teilnahme an einem Schwarm freiwillig ist und die Leute hoffen, dass sie hier etwas für sie Wichtiges verändern können, besteht die einzige Art von Führung darin, sie zum Handeln zu inspirieren.“(1) Die Stärke des Schwarms ruht auf der Menge der Teilnehmer und der Bündelung ihrer vereinzelten, voneinander unabhängigen Bemühungen.
Dieser Beitrag ist aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, die es neuerdings auch //www.monde-diplomatique.de/pm/.ekiosk/ekiosk:zum Hören gibt.
Der Experte für soziale Medien, Clay Shirky, hat drei unabdingbare Voraussetzungen für das Entstehen einer solchen lose organisierten Kooperation identifiziert: das Versprechen, die Mittel und die Vereinbarung.(2) Das Versprechen dient als Auslöser zum Handeln. Es muss für eine genügende Anzahl von Menschen relevant und erreichbar erscheinen. Das digitale Werkzeug ist heute online leicht verfügbar, wie die berühmte Open-Source-Software „Low Orbit Ion Cannon“ (Loic), die nach der Ionenkanone aus dem Science-Fiction-Klassiker „Krieg der Sterne“ benannt wurde.
In Foren, Wikis oder Chats kann die vielstimmige Kommunikation über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden. Mit der Vereinbarung akzeptiert man die Bedingungen für den Eintritt in den kollektiven Handlungsraum. Nur wenn die drei Voraussetzungen für eine große Zahl von Nutzern erfüllt sind – ein attraktives Versprechen, verfügbare Werkzeuge und eine nicht zu umständliche Vereinbarung –, kann die Kooperation beginnen.
Das Ganze ist jedoch nie statisch und unabänderlich, so kann etwa der Schwarm wachsen, die Richtung wechseln oder auseinanderfallen. Damit solche Schwärme nicht zu chaotischen und kurzlebigen Angelegenheiten werden, muss es ein viertes Element geben, einen gemeinsamen Horizont, der „es den verstreuten Mitgliedern eines Netzwerks erlaubt, sich gegenseitig als Teil eines gemeinsamen Universums von Bezügen und Vorstellungen zu erkennen“, wie der Kulturkritiker Brian Holmes erklärt.3
Anonymous ist also eine Serie von Schwärmen. Jeder Schwarm organisiert sich rund um einen bestimmten Aufruf zum Handeln, agiert unabhängig von den anderen und muss seine eigene Kombination aus Versprechen, digitalem Werkzeug und Vereinbarung bilden, um die Nutzer anzuziehen. Doch gleichzeitig sind die Schwärme dadurch vereint, dass sie sich gegenseitig unterstützen und unter derselben offenen Identität operieren, die aus wenigen, ziemlich allgemeinen Slogans, grafischen Elementen und kulturellen Referenzpunkten besteht. Jeder kann diese Identität wie eine Maske tragen, aber Anonymous zu sein, ergibt nur Sinn, wenn einem die sehr spezielle Mischung aus skurrilem Humor, Antiautoritarismus und tabufreier Rede zusagt, die sich Anonymous im Laufe der Zeit angeeignet hat.
Trotz der vielen Versuche, das „Internet zu zivilisieren“ – ein Vorsatz, den zuletzt Nicolas Sarkozy beim G-8-Treffen im Mai 2011 in Paris bekräftigt hat –, existieren weiterhin im Web dunkle Ecken, in denen alles erlaubt ist. Von besonderer Bedeutung für Anonymous ist die Website 4chan.org, ein technisch einfaches, aber sehr beliebtes Onlineforum, das 2003 gegründet wurde. Dort können Bilder und Texte eingestellt werden, ohne dass man sich registrieren muss – sie erscheinen unter der Identität „anonymous“. Das aktivste Forum der Seite, /b/-Random, beinhaltet explizit keinerlei Regeln für Postings. Zudem hat die Seite keinen Speicher, so dass alle Beiträge, die keine Antworten erhalten, in der Rangliste immer tiefer rutschen und letztendlich gelöscht werden – meist innerhalb von Minuten.(4)
Der einzige Speicher existiert in den Erinnerungen der Nutzer. Somit verschwindet alles, was nicht leicht erinnerbar ist und wiederholt werden kann. Um ein schnelles Verschwinden zu verhindern, werden täglich hunderte Beiträge in Form von Aktionsaufrufen formuliert, zum Beispiel der Vorschlag, einen willkürlich ausgewählten Wikipedia-Artikel zu verunstalten. Wenn der Aufruf genügend Leute anzieht, wird sich ein kleiner Schwarm auf den Artikel stürzen – einfach nur zum Spaß.
Aufgrund der Notwendigkeit, Dinge durch Wiederholung und Mitmachen am Leben zu erhalten, ist mit der Zeit eine kollektive Kultur entstanden, die auf Individualität oder Herkunftsangaben verzichtet. Innerhalb von fünf Jahren wurde aus dem technischen Platzhalter „anonymous“ die kollektive Identität „Anonymous“. Der gemeinsame Nenner ist ein sehr starkes, geradezu bedingungsloses Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, verbunden mit einem tiefen Misstrauen gegenüber jeder Form von Autorität, die versucht, diese Freiheit zu begrenzen.
Es war daher kein Zufall, als eine Gruppe im Winter 2008 begann, die Anonymous-Identität für eine Kampagne gegen Scientology zu nutzen, die schon seit Jahren von Hackern bekämpft wird. Die Cyberaktivisten haben immer wieder Insiderinformationen über Betrug und Manipulation veröffentlicht, während Scientology jeweils beachtliche Ressourcen aufwendete, um solche Informationen zu unterdrücken und das persönliche Ansehen ihrer Kritiker zu zerstören. Anonymous beteiligte sich an dem Kampf, nachdem Scientology versucht hatte, die Verbreitung eines internen Motivationsvideos zu unterbinden, in dem der Filmstar Tom Cruise – ein hochrangiges Mitglied – einen geistig verwirrten Eindruck macht. Als Antwort auf die üblichen juristischen Drohungen wurde ein nicht ganz ernst gemeintes Video verbreitet, in dem Anonymous die Zerstörung von Scientology ankündigte.
Nach einer heftigen Debatte auf mehreren Chatforen – ein wichtiger Teil der Infrastruktur spontaner Echtzeitkoordination – wurden nicht nur Onlineaktionen gegen die Scientology-Website koordiniert, sondern auch ein globaler Aktionstag ins Leben gerufen. Am 18. Februar 2008 gingen in mehr als 90 Städten in den USA, Europa, Australien und Neuseeland Scientology-Gegner auf die Straße. Um sich gegen eventuelle Racheaktionen der Organisation zu schützen, tarnten sich viele Teilnehmer mit der inzwischen berühmten Guy-Fawkes-Maske – eine Anspielung auf den anarchistischen Rebellen aus der Comicserie „V for Vendetta“.(5) An diesem Tag trafen sich Anonymous-Aktivisten zum ersten Mal außerhalb des Internets und solidarisierten sich mit anderen Protestgruppen. Aus Spaß wurde Ernst.
Diese Proteste blieben in den folgenden zwei Jahren der politische Fokus von Anonymous. Im September 2010 entstand mit der Operation „Payback“ ein weiterer Anonymous-Schwarm. Er begann als Angriff auf die indische Firma Aiplex Software, die engagiert worden war, um Tauschbörsen wie The Pirate Bay zu zerstören.(6) Payback weitete sich schnell auf die Website von MPAA (Motion Picture Association of America) und andere Pro-Copyright-Organisationen aus. Die Aktionen standen unter dem gemeinsamen Motto: „Sie sprechen von Piraterie, wir nennen es Freiheit.“
Den Raum des Möglichen erweitern
Im Zuge der „Payback“-Operation wurde Anonymous stärker politisiert sowie technisch und strategisch versierter. Im Dezember 2010, nachdem Wikileaks von Spenden abgeschnitten worden war, formierte sich Operation Payback neu und hackte die Websites von MasterCard, Visa, PayPal und der Bank of America. Im Januar 2011 konzentrierte sich Anonymous darauf, die Websites der tunesischen Regierung anzugreifen und verlieh damit den tunesischen Bloggern ein Gefühl von globaler Solidarität.7
Im Laufe des Jahres 2011 vervielfältigten sich die Anonymous-Schwärme, unzählige Aktionsaufrufe kursierten. Auslöser waren oft Leute, die einfach nur Aufmerksamkeit suchten oder von der medialen Aufmerksamkeit profitieren wollten. Doch manche Aufrufe schafften es, genügend Mitstreiter anzuziehen. Am 23. August 2011 zum Beispiel veröffentlichte Anonymous ein Video, in dem zur Besetzung der Wall Street aufgerufen wurde – eine Idee, die bereits seit mehreren Wochen von der kanadischen Aktivistengruppe Adbusters verbreitet worden war.(8) Als sich Anonymous einmischte, erhöhte sich schlagartig die Aufmerksamkeit für diesen Vorschlag, woraufhin sich mehrere unabhängige Initiativen für die Aktion zusammenschlossen. Gemeinsam begannen sie am 17. September 2011 die unbefristete Besetzung der Wall Street.
Anonymous kreiert immer wieder Slogans und Verknüpfungen, mit denen sich viele identifizieren können, wie etwa die Gleichsetzung von Medienpiraterie mit Freiheit. Den meisten etablierten Akteuren, besonders einigen NGOs, die von den einflussreichen Kräften in Politik und Gesellschaft ernst genommen werden wollen sind solche Statements dennoch zu extrem. Aber die Radikalität von Anonymous schafft es immer wieder, latente Energien freizusetzen, wohingegen die bedächtigeren, „vernünftigeren“ Statements nur lauwarme Reaktionen ernten. So erweitert sich der öffentliche Raum auch für andere Debatten, nachdem sich der politische Diskurs jahrzehntelang im engen Rahmen des Mainstreams bewegt hatte.
Diese Form von Organisation, so mächtig sie in ihrer Spontaneität auch ist, kann sich nur auf destruktive Weise mit den etablierten Institutionen auseinandersetzen. Zurzeit kann und will sie keine eigenen Alternativen schaffen. Allerdings schafft sie einen gemeinsamen, oppositionellen Horizont, der es einfacher machen könnte, zukünftige Aktionen abzustimmen. In vermeintlich stabile Wände hat sie bereits Risse geschlagen. Diese Risse in etwas Konstruktives zu verwandeln, ist die Aufgabe anderer. Zunächst hat Anonymous erfolgreich den Raum des Möglichen erweitert.
Fußnoten:
(1) Rick Falkvinge, „Swarmwise: What is a Swarm?“, 8. Januar 2001, falkvinge.net/2011/08/01/swarmwise-what-is-a-swarm.
(2) Siehe Clay Shirky, „Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations“, New York (Penguin Press) 2008.
(3) Brian Holmes, „Swarmachine“, 21. Juli 2007: brianholmes.wordpress.com/2007/07/21/swarmachine/.
(4) Siehe Cole Stryker, „Epic Win for Anonymous: How 4chan’s Army Conquered the Web“, New York, London (Overlook) 2011.
(5) Die in den 1980er Jahren veröffentlichte Science-Fiction-Serie spielt im Großbritannien der Zukunft. Der anarchistische Held „V“ nimmt mit einer Guy-Fawkes-Maske bekleidet den Kampf gegen einen faschistischen Polizeistaat auf.
(6) Siehe torrentfreak.com/4chan-ddos-takes-down-mpaa-and-anti-piracy-websites-100918/.
(7) Siehe Lina Ben Mhenni, „Tunisian girl, la bloggeuse de la révolution“, Paris (Indigene) 2011.
(8) www.vancourier.com/Adbusters+sparks+Wall+ Street+protest/5466332/story.html.
Aus dem Englischen von Lalon Sander
Le Monde diplomatique vom 10.2.2012
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