„Augmented Reality“ am Berliner Flughafen: „Eine Spreewaldgurke im Koffer“
Der Künstler Björn Melhus hat am Berliner Großflughafen einen „virtuellen Ort“ erschaffen. Flughäfen sind für ihn Orte des Übergangs und der großen Versprechen.
taz.de: Herr Melhus – was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass die Eröffnung des Großflughafens BER „auf unbestimmte Zeit“ verschoben wird?
Björn Melhus: Das war zunächst eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Vergleichbar mit einem Wissenschaftler, der über ein Jahr an einer Veröffentlichung gearbeitet hat, und dann sagt das entsprechende Wissenschafts-Magazin: Sorry, unsere Druckmaschinen sind ausgefallen. Bei diesem Projekt mussten wir sehr viel Pionierarbeit leisten, und jetzt ist eben erstmal alles auf Eis gelegt.
Sie haben einen der sechs „Kunst am Bau“-Orte am Flughafen gestaltet, und zwar den „virtuellen Ort“. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Der „virtuelle Ort“ war für ein „Kunst am Bau“-Projekt eine sehr außergewöhnliche Vorgabe. Bedingung war einerseits, dass es eine größtenteils immaterielle Arbeit werden sollte. Außerdem sollte es auf der „Luftseite“, also hinter dem Security-Check, verortet werden.
Was hat Sie an dem Auftrag interessiert?
Das Thema der Beheimatung zieht sich durch viele meiner Arbeiten. Wohl auch, weil ich selbst mich nirgends richtig zuhause fühle. Deshalb fand ich es reizvoll, auf dem Flughafen etwas zu machen, an so einem ausgewiesenen Nicht-Ort. Ich habe in den letzten Jahren so viele Stunden auf Flughäfen verbracht, so viele verschiedene Flughäfen kennen gelernt, dass ich eine komische Faszination dafür entwickelt habe, gerade für diese „luftseitige“ Situation. Es ist ein Ort des Übergangs, man weiß: Alle, die da rumlaufen, sind „clean“. Es ist einer der überwachtesten Orte, die man sich vorstellen kann, auf der anderen Seite eröffnet er auch eine große Freiheit mit dem Versprechen, in all diese Städte und Länder reisen zu können, die auf den Anzeigetafeln stehen.
Der Medienkünstler Björn Melhus ist Deutsch-Norweger. Er lehrt an der Kunsthochschule Kassel und lebt und arbeitet in Berlin.
In „Gate X“ haben Sie eine Kleinfamilie dort ausgesetzt – oder anders: ihr ein neues Zuhause geschenkt.
„Meine Familie“ – Vater, Mutter, Kind – sieht aus, als wäre sie einem Inflight-Safety-Video entsprungen. Ich habe mir im Vorfeld sehr viele dieser Videos angeguckt. Da gibt es fantastische. Auch mit echten Darstellern. Es ist unglaublich, was unternommen wird, um die Aufmerksamkeit der Passagiere zu gewinnen. Das ist ja wahrscheinlich eine der meist erzählten Geschichte auf der Erde. „Im unwahrscheinlichen Fall eines Druckverlusts...“, da muss man sich schon was einfallen lassen, damit die Leute dran bleiben.
Am Flughafen Berlin Brandenburg gestalten sechs internationale Künstler jeweils ein Projekt zum Thema „Luft-Land“. Björn Melhus inszeniert in seinem „Gate X“ das Leben einer Familie, die in einer virtuellen Parallelwelt innerhalb des Terminals lebt.
Der Alltag Ihrer Familie ist dagegen recht unspektakulär...
Ich bin der Frage nachgegangen: Was macht man, wenn man auf so einem Flughafen einfach da ist, ihn nicht wie alle anderen nur passiert? Meine Antwort: Man kocht, man schläft, man macht Sport. Die Mutter pflanzt in einem Koffer eine Spreewaldgurke an, um die Familie mit Vitaminen zu versorgen. Das Kind macht Quatsch.
Wie rezipiert der Flughafenbesucher Ihre Arbeit?
Es wird am Flughafen 24 Orte mit sogenannten „Augmented-Reality-Markern“, also Schildern mit Codes, geben, über die man die Familie in unterschiedlichen Situationen auf dem Smartphone-Display im realen Umraum sichtbar machen kann. Vorher muss man sich eine kostenlose App herunterladen.
Man benötigt also ein Smartphone, um die Arbeit anzuschauen?
Wenn ich so ein Smartphone nicht habe, kann ich mir das nicht angucken. Das ist natürlich ein Ausschlusskriterium. Ich bin aber überzeugt davon, dass es auf kürzer oder länger nichts anderes mehr geben wird. Das Smartphone wird zum Standard werden.
Was interessiert Sie als Künstler daran?
Ein Smartphone ist ein extremer Privatraum. Binnen kürzester Zeit wird es zum Tagebuch des Besitzers. Es beinhaltet eigentlich alles. Überspitzt gesagt, werden die neuen Technologien zu körperlichen Erweiterungen oder Prothesen – wie Sigmund Freud es in seiner Theorie vom Mensch als Prothesengott schon vor fast hundert Jahren formulierte.
Kreieren neue Medien eine neue Kunst?
Auf jeden Fall neue Rezeptionsformen. Ich bin nicht mit einer Technologie konfrontiert, die als Maschine oder Schnittstelle irgendwo im Raum platziert ist. Sondern die Maschine gehört zu mir. In „Gate X“ bringe ich diesen personalisierten Raum mit dem öffentlichen Raum des Flughafens zusammen. Dabei läuft auf dem Display kein Film ab. Sondern es handelt sich bei Familie um in Echtzeit erzeugte Virtualität.
Ganz wichtig für mich ist, dass sie nicht abgelöst sind von der Architektur, in der sich auch der Rezipient befindet, sondern dass sie sich skulptural einfügen. Sie werden vom Programm in das Livebild der jeweiligen Umgebung eingefügt. Die Realität wird um die Figuren erweitert. Man kann sich „daneben“ stellen und ein Gruppenfoto mit der Familie machen.
Was passiert mit einer neuen Technologie, wenn sie altert?
Technologisch bedingt, erinnern die Figuren von „Gate X“ in ihrer Einfachheit an eine frühe Gaming-Ästhetik, also haben sie beinahe schon etwas Geschichtliches.
Was die Konzeption als App angeht, wird diese Technologie vielleicht in zehn Jahren eine Art Rückblick auf die Entstehungszeit des Flughafens darstellen, den Stand der Dinge von damals – das heißt, jetzt – dokumentieren. Ich denke, wenn der Inhalt stimmt, kann auch die Technik gut altern.
Wie fortschrittlich ist denn die App „Gate X“ heute, wie aufwändig war ihre Produktion?
Das ist technologisch etwas, was in der Art und in der Komplexität vor nicht allzu langer Zeit nicht möglich gewesen wäre. Als ich das Konzept vorgestellt habe, war’s hart an der Grenze, ob’s überhaupt machbar ist. Die Projektionen werden jedes Mal, wenn sie abgerufen werden, live gerendert. Das bedeutet, das Smartphone muss in kurzer Zeit ziemlich viele Daten verarbeiten. Die Zeit ist uns zum Glück entgegengekommen, die Geräte sind schon viel schneller geworden. Es wird also kein Problem darstellen.
Enthält die App noch mehr als die Spielerei um „Ihre Familie“ herum?
Ja, ganz wichtig ist auch der „Survival Guide“. Es gibt gewisse Dinge, die man brauchen könnte, wenn man längere Zeit im Flughafen verbringt. Zum Beispiel Sport. Da gibt es Anweisungen zu Airport Yoga oder den Tipp, die Rollbänder verkehrt herum zu laufen, wenn man sich mal die Füße vertreten will. Dann gibt es eine Anleitung, wo man viele Kalorien für wenig Geld kriegt. Der „Survival Guide“ geht aber noch weiter, bis hin zur Anleitung zum Bau einer Wünschelrute, wenn gar nichts mehr geht. Mit der man sich dann auf die Suche nach Wasseradern machen kann.
Wenn gar nichts mehr geht?
Natürlich habe ich mich für die Arbeit durchaus auch mit Weltuntergangsszenarien auseinandergesetzt. Aber grundsätzlich bewege ich mich als Künstler in der Welt, in der wir leben, denn wir haben ja keine andere.
Wir können aber eine andere entwerfen. Genau das machen Sie ja mit „Gate X“.
Ja natürlich, wir können alles. Oder vieles, doch wie es funktioniert, wissen wir meistens nicht. Das ist ja das eigentlich Verrückte an unserer gegenwärtigen Welt. Wenn ich früher ein Pferd vor eine Kutsche gespannt habe, dann war das für den menschlichen Verstand sehr nachvollziehbar. Aber beim Verbrennungsmotor fängt’s schon an... Und mit der Computertechnologie hört’s für die meisten endgültig auf.
Das Wissen, warum das alles funktioniert, das wird uns irgendwann komplett verloren gehen. Das wird dann so sein wie jetzt schon mit der globalen Finanzwirtschaft.
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