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Aufmarschieren in Ruinen

■ Nachdem sie Grosny sturmreif schossen, rücken die russischen Truppen immer weiter vor

Grosny/Moskau (AFP/rtr/taz) – Unterstützt von schwerer Artillerie haben die russischen Truppen gestern den Ring um den Präsidentenpalast in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny enger gezogen. Nach Augenzeugenberichten bezogen russische Panzer drei Blocks vom Palast entfernt Position und feuerten auf das Gebäude. Nach tschetschenischen Angaben sind mehrere tausend russische Infanteriesoldaten in der Stadt zusammengezogen worden, um den Palast, der als Symbol der Unabhängigkeit Tschetscheniens gilt, einzunehmen.

Zugleich versuchten jedoch auch die Tschetschenen, weitere Truppen an das brennende Gebäude heranzuführen und Verletzte abzutransportieren. Um die Tschetschenen daran zu hindern, sich auf diese Weise zu verstärken, würde die russische Luftwaffe die einzige noch nicht von ihnen kontrollierte Ausfallstraße aus Grosny beschießen, meldete ein russischer Rundfunksender. Die russischen Truppen würden inzwischen zwei Drittel Grosnys kontrollieren; nach Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums besetzten sie gestern nachmittag auch das Sicherheitsministerium.

Eine andere Rundfunkstation berichtete, die tschetschenischen Kämpfer hätten am Sonntag abend eine dreistündige Feuerpause vorgeschlagen, damit beide Seiten ihre gefallenen Mitkämpfer bergen könnten. Nach unbestätigten Angaben lehnte die russische Seite den Vorschlag ab. Die Moskauer Nachrichtenagentur RIA teilte mit, Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin werde am Dienstag zu Verhandlungen mit tschetschenischen Vertretern in Moskau zusammentreffen. Unklar blieb gestern weiterhin, ob der tschetschenische Präsident Dschochar Dudajew Grosny verlassen hat oder sich noch in einem Bunker unter dem Palast aufhält.

Beobachter gehen davon aus, daß der Krieg in Tschetschenien auch nach einer russischen Eroberung Grosnys weitergehen wird. Zahlreiche Truppen Dudajews sollen sich bereits in die Berge im Süden des Landes abgesetzt haben. Allerdings könnte der russische Präsident Boris Jelzin nach der Eroberung Grosnys dort seine Marionettenregierung installieren und den Übergang zur politischen Konfliktlösung verkünden. Die Truppen Dudajews würden dagegen versuchen, den Palast so lange wie möglich zu halten, um damit möglichst viele russische Truppen in Grosny zu binden.

Erneut gegen den Tschetschenien- Krieg demonstriert hat in Moskau die Organisation der „Soldatenmütter“: Mehrere Dutzend Frauen hielten vor dem russischen Verteidigungsministerium Fotos ihrer Söhne in die Höhe. In der russischen Hauptstadt wurde gestern eine Delegation der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter Leitung ihres Präsidenten, des ungarischen Außenministers Laszlo Kovacs, erwartet. Kovacs hatte die russische Intervention in Tschetschenien scharf verurteilt. Eine harsche Kritik des russischen Vorgehens gegen die muslimische Bevölkerung Tschetscheniens formulierten unterdessen die 52 Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC). her Seite 10

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