: Aufbruchsstimmung ohne Zielpeilung
■ Rasen, charmieren, stolpern: Jürgen Gosch inszeniert Die Mama und die Hure am TiK
Daß es auf eine neue Inszenierung hinzuweisen gilt, die bereits zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde, das kommt nicht alle Tage vor. Denn entweder ist die Inszenierung neu, dann kann sie nicht nach Berlin eingeladen worden sein. Oder sie wurde zum Treffen eingeladen, dann kann sie nicht neu sein.
Wie es dennoch geht: Der Theaterregisseur Jürgen Gosch inszenierte in der vergangenen Spielzeit Die Mama und die Hure am Bochumer Schauspielhaus. Es wurde eine so schöne Inszenierung, daß sie nach Berlin zum Treffen gebeten wurde. In Bochum aber kann sie nicht mehr gespielt werden, denn dort heißt der Intendant nicht mehr Frank Patrick Steckel wie noch vor einem Jahr. Er heißt jetzt Leander Haussmann. Und neue Intendanten pflegen ihre neue Ära mit einem komplett neuen Programm rundzuerneuern. Dies wissend, hat das Hamburger TiK zugegriffen. Das Thalia bot Jürgen Gosch die Gelegenheit, den Stoff – basierend auf dem gleichnamigen Film von Jean Eustache aus dem Jahre 1973 – noch einmal zu inszenieren.
Alles dreht sich um Alexandre. Wie bereits in Bochum wird er von Martin Feifel gespielt. Alexandre ist Nutznießer und Opfer der 68er-Ereignisse zugleich. Er profitiert von der sexuellen Liberalisierung; andererseits, so meint Dramaturg Wolfgang Wiens im Gespräch, reflektiere das Stück bereits die Situation nach 68: „Es war zwar noch die volle Aufbruchsstimmung vorhanden, aber sie fand kein rechtes Ziel mehr.“ Und so rast, charmiert sich und stolpert Alexandre durch die Handlung, gestoßen, gerissen und gehalten von Freunden und Passanten, vor allem aber von der „Mama“ Marie (Charlotte Schwab) und der „Hure“ Veronika (Katharina Linder, auch sie war bereits in Bochum dabei). Wer Martin Feifel in Der Streit gesehen hat, weiß, daß es gut werden wird: Theater heute wählte ihn zum besten Nachwuchsschauspieler.
Die Handlung des Stücks durchherrscht eine neue Freiheit, aber keine der Figuren weiß damit recht umzugehen. Für Wolfgang Wiens liegt hierin begründet, daß es auch den heutigen Zuschauer noch anzusprechen vermag: „Natürlich sieht man inzwischen die Distanz, aber zur Lage, die das Stück schildert, ist immer noch nichts wesentlich Neues an die Stelle getreten.“
Dirk Knipphals
TiK: Sa, 18. und So, 19. 11., 20 Uhr
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