: Auf ins Land der Legenden!
Nach dem 1:0-Erfolg gegen den kleinen Großen Polen glaubt die DFB-Auswahl daran, bald auch einen großen Großen schlagen zu können
AUS DORTMUND MARKUS VÖLKER
Michael Ballack legte Wert auf dieses Detail, noch bevor er auf die „besonderen emotionalen Momente“ des Spiels zu sprechen kam. „Wir haben seit langem mal wieder eine europäische Mannschaft in einem großen Turnier geschlagen“, stellte der Kapitän erst einmal fest. Darauf könne man stolz sein. Und richtig: Der 1:0-Sieg gegen Polen im „Tempel an der Strobelallee“ (Westfälische Rundschau) beendete eine Niederlagenserie, die vor zehn Jahren begonnen hatte. Gegen Paraguay, die USA, Saudi-Arabien und Kamerun hatte es ja immer ganz gut geklappt auf den großen Fußballmessen, aber gegen die taktisch gut organisierten Altkontinentalen nicht.
Der letzte Erfolg einer DFB-Auswahl gegen ein Team vom gleichen Kontinent bei einer WM oder EM, das war der 2:1-Triumph im Finale der Europameisterschaft: 1996 in London gegen Tschechien. Man erinnert sich. Verlängerung. Golden Goal. Oliver Bierhoff. Dann folgten neun Turnierpartien gegen europäische Rivalen ohne Sieg. Nach regulärer Spielzeit hatte sich der dreimalige Welt- und Europameister zuletzt im vorangegangenen EM-Viertelfinale gegen Kroatien durchgesetzt (2:1). Und bei einer Weltmeisterschaft liegt eine Erfolg sogar noch weiter zurück. Seinerzeit, im Jahre 1994 war’s, als der deutschen Elf gegen Belgien ein Sieg (3:2) gelang.
Was Michael Ballack allerdings nicht erwähnte: dass ein Sieg gegen einen so genannten Großen der Fußballwelt – dazu gehören Argentinien, Brasilien, Frankreich, aber auch die Niederlande und England – auch schon eine Weile zurückliegt, sechs Jahre nämlich. Will die Mannschaft von Bundestrainer Jürgen Klinsmann Weltmeister im eigenen Land werden, was ja ihr erklärtes Ziel ist, dann müssen nicht nur Siege gegen kleine Große her, sondern auch welche gegen große Große. Im Achtelfinale, das das Team nun erreicht hat, trifft es aller Wahrscheinlichkeit nach auf England oder Schweden; Brasilien würde erst im Finale auf die Deutschen zukommen. Aber mit solchen Szenarien will Klinsmann sich noch nicht befassen. Er genoss in Dortmund die Gunst des Augenblicks und die Gnade eines späten Tores, erzielt von Einwechselspieler Oliver Neuville nach einer Flanke von Einwechselspieler David Odonkor.
Der Treffer in der Nachspielzeit hatte Klinsmann derart enerviert, dass er entgegen seiner Gewohnheit aufs Spielfeld lief und die Profis umarmte. „Das war ein sehr emotionaler Moment“, schwärmte er, „solche Geschichten kann nur der Fußball schreiben.“ Dann parlierte er auf Englisch weiter, sprach von einem „Moment of Joy“ und davon, dass seine Mannschaft diesen Sieg „deserved“, also verdient hatte. Das war nicht ganz falsch. Die Elf erarbeite sich eine Vielzahl von Chancen, die zu einem gefühlten Ergebnis von 4:1 führten. Dass es ein dennoch ein untypisches Einsnull wurde, lag an Stürmer Miroslav Klose, der beste Möglichkeiten ausließ, auch an Lukas Podolski, der den Ball nicht im Kasten unterbrachte. Und hinten, welche Überraschung, stand nach 93 Minuten die Null. Die Abwehr hielt dicht, meistens jedenfalls, weswegen Ballack trotz aller Beglückung von einem „wackeligen Spiel“ sprach. Am Ende hätte die Physis den Ausschlag gegeben. „Das war unser großes Plus, das hat man heute gesehen“, sagte Ballack.
Per Mertesacker war recht erleichtert darüber, „dass wir hinten mal zu null gespielt haben und dass mal ein bisschen Ruhe einkehrt in die Diskussion“. Gemeint war die Diskussion um eine löchrige Abwehr und missglückte Abwehrfallen. Er habe in diesem Spiel aber immer gewusst: „Hier passiert noch was.“ Nicht hinten, sondern vorn, im Angriff der Deutschen. Das Match gegen Costa Rica lag in diesem Moment weit in der Vergangenheit. Mertesacker sprach davon, als hätte es im Pleistozän dieser WM stattgefunden: „Damals hatten wir in bestimmten Situationen ein nicht identisches Denken“, führte er halbakademisch aus.
Mit dem identischen Denken gab es auf dem Platz nun wirklich keine Probleme – und nicht nur da. Die Fans waren einheitlich schwarzrotgolden bekuttet und auf Euphorie getrimmt. Der Jubel über das späte Tor geriet denn auch zur Generalprobe für eine eventuelle WM-Meisterfeier. Das Team, das muss man konstatieren, hat die Zuschauer mit seinem offensiv-dynamischen Spiel erreicht. Und die Fans tun das ihrige: anfeuern, Fahnen schwenken, nach allen Regeln der Sangeskunst krakeelen. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ ist in diesen Tagen immer wieder zu hören, die Reiseroute der Deutschen ins Finale ist damit gemeint. Dabei sind sie ja längst in Berlin. Gestern kamen sie in den frühen Morgenstunden um 2.15 Uhr im Schlosshotel Grunewald an. Dort soll dann zu später Stunde auch Klinsmann ein Gläschen genommen haben.
Das Spiel gegen Polen war ohnehin die Partie des Bundestrainers. Es kam einer fußballerischen Selbstbestätigung gleich und könnte zum Schlüsselspiel des DFB-Teams bei dieser WM werden. Es schien, als hätten Klinsmanns Spieler den Rubikon überschritten und könnten nun eine neue Fußballwelt erobern, ein Land, das bisher nur in den Legenden des Trainerstabes vorkam. Warum war es ein Klinsmann-Spiel? Weil die Elf kein Gegentor zuließ, einnehmend offensiv kickte, ihre Fitness ausspielte – und auch die Einwechslungen folgten Klinsmanns Masterplan und brachten zusätzlichen Vorwärtsdrang gegen immer müder werdende Polen. „Allerdings hätten wir das Tor etwas früher machen können“, sagte Klinsmann. Das ist die Maßgabe für das Spiel gegen Ecuador, am kommenden Dienstag in Berlin.